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„Partei” der Nichtwähler

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Die Deutschen sind unzufrieden -und zwar mit ihren Politikern. Meinungsumfragen offenbaren es immer wieder: Nicht nur die regierende Koalition aus Christdemokraten und Freidemokraten genießt schlechtes Ansehen. Auch die Politiker der SPD-Opposition erfreuen sich keines guten Rufs. Die Wahl in Hessen vom vergangenen Sonntag hat dies dramatisch bestätigt.

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Die Deutschen sind unzufrieden -und zwar mit ihren Politikern. Meinungsumfragen offenbaren es immer wieder: Nicht nur die regierende Koalition aus Christdemokraten und Freidemokraten genießt schlechtes Ansehen. Auch die Politiker der SPD-Opposition erfreuen sich keines guten Rufs. Die Wahl in Hessen vom vergangenen Sonntag hat dies dramatisch bestätigt.

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Die einzige Wahl in Deutschland in diesem Jahr, die Kommunalwahl am 7. März in Hessen, hat eine enorme Politikverdrossenheit und die damit verbundenen besseren Ausgangschancen für rechte Gruppierungen erneut vor Augen geführt. Die Wahlbeteiligung rutschte mit nur 67 Prozent auf ein Rekordtief. Die Republikaner unter Franz Schönhuber konnten mehr als acht Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Größter Verlierer der Wahl ist mit drastischen Stimmeneinbußen die in Hessen regierende SPD.

Bestechungsaffären

Laut Wahlbarometer liegt die SPD im gesamten Bundesgebiet deutlich vor der Union oder holt systematisch auf. Aber die meisten Bundesbürger trauen weder der Regierung noch der Opposition zu, die Fülle der vorhandenen Probleme zu lösen.

Seit Wochen geht in Deutschland ein Gespenst um: die „Partei” der Nichtwähler. Sie ist längst - so zeigen es verschiedene Umfrageergebnisse - zur stärksten Partei geworden. Bei der nächsten Bundestagswahl im Herbst 1994 könnte sie der eigentliche Gewinner sein.

Die Zahlen sind alarmierend und verraten eine bedenkliche Politikverdrossenheit in Deutschland. Heute gibt es mehr Deutsche, die erst gar nicht wählen gehen würden, als Wähler der CDU/ CSU oder der SPD. 18 Millionen Bundesbürger sind nicht bereit, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Wenn auch die Zahlen je nach Umfrageinstitut schwanken: Tatsache ist, daß den sogenannten Volksparteien derzeit das Volk davonläuft.

Gründe für diese sich seit Beginn der achtziger Jahre abzeichnende Entwicklung gibt es verschiedene. Die Turbulenzen der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands haben noch ihre Nachwirkungen. Die Deutschen wurden vor eine Herausforderung gestellt, deren Ausmaß sich erst nach der euphorischen Wiederherstellung der Einheit zeigte. Das Ausmaß des katastrophalen Zustandes der ehemaligen DDR wurde unterschätzt, die Zahl der Arbeitslosen vor allem in den neuen Bundesländern steigt unaufhörlich, in der Stahlkrise entsteht neuer sozialer Sprengstoff, und aus dem Solidarpakt ist längst ein Solidarstreit geworden.

Schließlich gibt es noch das Gezerre und Durcheinander in Bonn zur Autobahn-Vignette und das Hin und Her zu Steuererhöhungen.

Kurzum: Immer weniger Wahlberechtigte trauen den Politikern - regierenden wie oppositionellen - überhaupt noch zu, die Probleme meistern zu können. 65 Prozent aller Deutsehen glauben, daß die Verhältnisse in Deutschland Anlaß zur Beunruhigung bieten.

Zu den Gründen für diese Politikverdrossenheit muß man wohl auch die zahlreichen kleinen und großen Bestechungsaffären zählen, die quer durch alle Parteien zu finden sind. Aber vor allem ist hier auch anzumerken, daß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sich mit einer besonderen deutschen Eigenschaft paaren. Es ist die ständige Larmoyanz, das Vermögen der deutschen Seele, stets zu jammern und zu klagen.

Das Selbstbewußtsein der Deutschen ist auch ein halbes Jahrhundert nach der braunen Schreckenszeit noch immer nicht im Gleichgewicht. „Wir jammern auf einem hohen Niveau”, kennzeichnete das Bundeskanzler Kohl, dessen ungetrübterOptimismus und die selbstsichere Gelassenheit im Gegensatz zum allgemeinen Befinden stehen.

Deutsche Problemliste

Arbeitslosigkeit, Asylanten und Asylrecht, Ausländerfeindlichkeit, wirtschaftliche Lage, Probleme der Wiedervereinigung, die Entwicklung in den neuen Bundesländern und der Rechtsradikalismus - so sehen die Deutschen die Spitze ihrer Problemliste. Nicht vergessen darf man den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Die Unentschlossenheit vieler Politiker, hier klare Stellung zu beziehen, erregt die Gemüter ebenso wie die deutlichen Worte des jungen CDU-Abgeordneten Stefan Schwarz, der - ähnlich wie etliche Kirchenvertreter - das Eingreifen einer bewaffneten Friedenstruppe fordert.

In einem Punkt sind sich beinahe alle Deutschen übrigens einig: daß es eine Schande für Europa ist, diesen Krieg auf dem Kontinent nicht beseitigt zu haben.

Trotz all der düsteren Prognosen läßt sich noch nichts Verbindliches für die Bundestagswahl 1994 vorhersagen. Helmut Kohl, zu dem es in der Union nach wie vor keine Alternative gibt, bleibt zuversichtlich, auch diese Wahl zu gewinnen. Besonders leicht macht es ihm die sozialdemokratische Opposition unter dem SPD-Chef Björn Engholm. Es gibt sie nämlich gar nicht.

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