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Perestrelka statt Perestrojka

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Gorbatschow nannte jüngst die Nationalisten in den Teilrepubliken „Feinde der Perestrojka“, denen man Einhalt gebieten müsse. Endet der Nationalitätenhader in einer Schießerei?

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Gorbatschow nannte jüngst die Nationalisten in den Teilrepubliken „Feinde der Perestrojka“, denen man Einhalt gebieten müsse. Endet der Nationalitätenhader in einer Schießerei?

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In der Sowjetunion macht das geflügelte Wort die Runde, daß Michail Gorbatschows Perestrojka sehr leicht in einer Perestrelka (= Schießerei) enden könnte. Tatsächlich scheint sich der Streit der Nationalitäten zuzuspitzen. Die Fronten sind erstarrt, dem gegenseitigen Mißtrauen wird immer häufiger in haßerfüllten Tiraden und Attacken Luft gemacht.

Es gibt deutliche Hinweise darauf, daß die Feindseligkeiten zwischen den Völkern des Imperiums auch systembedingt sind. „Der Nachbar ist an dieselben Ketten gefesselt, wie wir selbst. Anstatt das System zu hassen, hassen wir unseren Nachbarn“, gibt Karen Sure-nian, armenischer Volksdeputierter, zu bedenken.

Markant tritt der Aspekt des „Futterneides“ in den Vordergrund. In Estland, das auf dem Sektor Fleischversorgung besser dasteht als andere Republiken, denkt man darüber nach, wie man den Einkaufstourismus der Russen abwürgen könnte. Um das Fleischangebot vor dem Aufkauf durch die heißhungrigen Nachbarn zu schützen, will man die offiziellen Preise derart erhöhen, daß die Ware unerschwinglich wird. Die Esten sollen aber das Fleisch zum gewohnten Preis erstehen können.

Der Kindersegen der islamischen Republiken Zentralasiens schürt ebenfalls Ressentiments. In Turkmenistan sind Familien mit zehn oder mehr Kindern keine Seltenheit, während Familien im europäischen Teil des Staates nur ein bis zwei Kinder haben. Erstere können natürlich die Geldkuh des Sozialfonds ganz anders „melken“.

Der Neid ist grenzenlos. Inzwischen haben sich auch Begriffe wie „Geberrepubliken“ und „Nehmerrepubliken“ eingebürgert. Der Rektor der Universität von Vilnius, I.Kubiljus, grollt: „Litauen ist eine Agrarrepublik und verlustbringend, weil die Preise für landwirtschaftliche Produkte viele Jahre hindurch nicht angehoben worden, aber die für technische Produkte und Dünger sehr wohl gestiegen sind Litauen erzeugt mehr Fleisch pro Einwohner als die USA. Wieso nennt man uns Schmarotzer, wenn wir so gute Arbeit leisten?“ Auch das Plandiktat Moskaus ärgert den streitbaren Rektor: „Wie lange noch wird irgendein Iwan Petro witsch im Zimmer 241 entscheiden, ob in irgendeiner Stadt in Litauen, deren Namen er nicht einmal aussprechen kann, eine Toilette gebaut wird?“

Ein weiterer Streitpunkt ist das Sprachenproblem. Während Balten, Moldawier und andere darum kämpfen, ihre Sprache zur obligatorischen Amtssprache zu machen, sind die Georgier, Armenier und Aserbaidschaner, denen dieses Privileg längst zugestanden wird, alles andere als zufrieden. Otar Tscherkesija, Vorsitzender des Ministerrates Georgiens, erläuterte in einem „Praw-da“-Gespräch, wie kleine Dinge zu Mißhelligkeiten führen können: „Nicht nur einmal wurde das Ministerium für Femmeldewesen damit beauftragt, unseren Telegrafenämtern Apparate mit georgischen Schriftzeichen zur Verfügung zu stellen. Denn was geschieht jetzt? Jemand schickt ein Telegramm aus einem Dorf in ein anderes und schreibt georgische Wörter in russischer Schrift. So entsteht derartiger Unsinn, daß weder ein Georgier noch ein Russe das Telegramm verstehen kann.“

Solche Situationen können sehr leicht als Vorwand für die Klassifizierung des öffentlichen Lebens herangezogen werden. Auch Gorbatschow hat dies beim jüngsten ZK-Plenum vorige Woche getan.

Wird in den offiziellen Sowjetmedien nach den Anfängen und Ursachen dieser Spannungen gesucht, so weiß man gleich, daß Stalin der Schreckliche an allem schuld ist. Und unter Lenin hätte es das nicht gegeben? 1913, als der zaristische „Völkerkerker“ immer größere Zersetzungserscheinungen aufwies und die nicht-russischen Nationen auf Loslösung pochten, schrieb Lenin: „Wir sind für den demokratischen Zentralismus, unbedingt. Wir sind gegen die Föderation. Sie schwächt die ökonomischen Bindungen, sie ist ein untauglicher Typus für einen Staat... Im allgemeinen sind wir gegen die Lostrennung. Aber wir sind für das Recht auf Lostrennung angesichts des erzreaktionären großrussischen Nationalismus.“

Lenin sandte Stalin nach Krakau und Wien, um Grundlagen für die Studie „DienationaleFrageunddie Sozialdemokratie“ zusammenzutragen. Aber aus dem theoretischen Paradestück wurde nichts, weil Stalin keine einzige Fremdsprache kannte. 1917predigte Lenin zugleich die Lostrennung als Recht und die Föderation als Pflicht. Und die Völker nutzten die Gunst der Stunde und das verfassungsmäßig garantierte „Recht auf Loslösung“. Deshalb machte Lenin gleich einen Rückzieher: Die Interessen des Sozialismus stünden höher als die Interessen des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.

Mit dem Recht der Nationalitäten ging es wie mit anderen Punkten des Leninschen Programms: Nach kurzer Zeit hatte die Praxis nichts mehr gemein mit der Theorie. Und Stalin machte sich zum Praktiker des Rechts des Sowjetstaates, die widerspenstigen Völker mit Waffengewalt unter seine Fuchtel zu bringen.

Praktisch wurde meist so vorgegangen: Man sprach den anderen Staaten nicht direkt das Recht auf Unabhängigkeit ab. Aber die nationalen kommunistischen Kader hatten sich dem Diktat der Zentrale in Moskau unterzuordnen. Auch da weicht Gorbatschow kaum vom vorgezeichneten Weg ab.

Die Gleichschaltung der wider-, spenstigen Völkerschaften wurde auf zwei Wegen betrieben: Einerseits durch Auslöschung ihrer kulturellen Identität und andererseits durch Einschleusen russischer Kolonisten, meist in Form von Industriearbeitern.

Den kulturellen Bedürfnissen glaubte man Genüge zu tun, indem man unter der griffigen Formel „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ den Völkern erlaubte, das, was der Kreml wollte, in der eigenen Sprache zu sagen. Die sogenannten „Alphabet-Kampagnen“ beraubten die Moslems, As syr er und andere ihrer Schrift.

Nach außen hin versucht man bis heute die Illusion der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses der Völker des Sowjetstaates aufrechtzuerhalten. Die Nationalitäten hassen heute aber das System, Moskau und die Russen. WennMichail Gorbatschow sich um Rat in Sachen Nationalitätenpolitik umschaut, ist er sowohl bei Stalin, den er ablehnt, in dessen Ära er aber aufwuchs, als auch bei Lenin, den er immer wieder anruft, schlecht beraten.

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