7042554-1990_22_04.jpg
Digital In Arbeit

Perestrojka auf lateinamerikanisch

19451960198020002020

Lateinamerikas Marxisten stecken in der Sackgasse. Moskau stieß die bärtigen Revolutionäre ab. Der Neo- Liberalismus triumphiert. KPs verkommen jetzt zur Be- deutungslosigkeit.

19451960198020002020

Lateinamerikas Marxisten stecken in der Sackgasse. Moskau stieß die bärtigen Revolutionäre ab. Der Neo- Liberalismus triumphiert. KPs verkommen jetzt zur Be- deutungslosigkeit.

Werbung
Werbung
Werbung

Die telegenen Amateur-Politiker, wie zuletzt in Peru mit Mario Var- gas Llosa und Alberto Fujimoro, die in Lateinamerika überall vor- drängen, signalisieren das Ausein- anderfallen des traditionellen Par- teiensystems. Am schlechtesten ergeht es dabei den zahlreichen Strömungen marxistischer Grup-

pierungen, die sich von Moskaus „Glasnost" und „Perestrojka" aus dem Schritt bringen lassen.

Solange Moskau unumstritten die kommunistische Befehlszentrale abgab, war die Welt insoferne in Ordnung, als die orthodoxen kom- munistischen Parteien Lateiname- rikas - zahlenmäßig nie sehr be- deutend, aber im Gewerkschafts- sektor überraschend aktiv - über klare Vorgaben verfügten.

Perestrojka auf lateinamerikanisch

Haben auf dem Subkontinent Kapitalismus und Imperialismus gesiegt?

Lateinamerikas Geschichte wur- de dabei aus klassenkämpferischer Perspektive interpretiert: die Pha- se des bürgerlichen Nationalismus im städtischen Lateinamerika war vorerst abzuschließen; taktisch empfahl sich für Dekaden der Weg der linken Parteienbündnisse mit dem Ziel von Volksfrontregierun- gen - wie zuletzt mit Salvador Al- lende in Chile 1970 bis 1973 (ein Experiment, das im Kugelhagel des Pinochet-Putsches endete).

Diese unkomplizierte, plakative Weltinterpretation eines von den lateinamerikanischen KPs vor- wärtsgedrängten bürgerlichen Kapitalismus erhielt einen ersten Verunsicherungsstoß mit Fidel Castro.

Der damals blutjunge kubanische Revolutionär hatte keine Geduld, um auf Volksfrontchancen zu war- ten, sondern machte seine eigene Revolution und konnte im Jänner 1959 triumphierend in Havanna

einmarschieren.

Diese „Barbudos", bärtige, sa- loppe Guerilleros aus dem monte- Dschungel, hatten eine neue revo- lutionäre Strategie aus dem Boden gestampft, welche den orthodoxen Kommunismus weit zurückließ. Kubas und Lateinamerikas offiziel- le KPs überschütteten den Gueril- la-Comandante, der sich nicht an die altgedienten KP-Manuale hielt, vorerst mit Beschimpfungen und denunzierten ihn als „kleinbürgerlichen Abenteurer". Erst als sie die Wirksamkeit dieser von der Stadt auf das Land verleg- ten Strategie erkann- ten - zudem gedrängt von Moskau - zollten sie ihm Anerkennung und öffneten ihre Bewegung der revo- lutionären Guerilla- Aktion.

Seit den frühen sechziger Jahren agierte so das marxi- stische - gelegentlich vulgär-marxistische - Denken Latein- amerikas auf zwei Ebenen: Auf jener der orthodoxen KP in voller Legalität mit dem Fernziel der Volksfrontregierun- gen; und auf der der aktionistischen Revolutionäre nach fidelistischem Muster, mit dem ländlichen Guerilla-Fokus im Mit- telpunkt.

Lateinamerikas Marxismus fä- cherte an dieser Stelle in fast un- übersehbare Stränge aus, mit trotz- kistischen, nationalistischen, links- peronistischen, maoistischen und regional-autonomen Bezügen, spä- ter auch noch bereichert um Ele- mente des lateinamerikanischen Linkskatholizismus und der „Theo- logie der Befreiung". (Kolumbiens Camilo Torres, es sei daran erin- nert, fiel 1966 als erster Guerilla- Pfarrer in einem Gefecht gegen eine Armeepatrouille.)

Mittelamerikas soziale Gärung der siebziger und achtziger Jahre erweiterte diese Bandbreite noch um den „bewaffneten Volksauf- stand", bei dem die nikaraguani- schen Sandinistas vom elitären Guerilla-Fokus im Dschungel zum Barrikadenkampf in der Stadt mit breiter Beteiligung der Bevölkerung voranschritten.

In einer momentanen lateiname- rikanischen Konstellation der acht- ziger Jahre sah es danach aus, als ob der ideologisch-militärische Wettbewerb zwischen den Verei- nigten Staaten und der Sowjetuni- on auch den - lange ausgesparten - Su

n Wettbewerb mit den Stationen Grenada 1983, Panama 1989 und Nikaragua 1990 voll für sich, und die Sowjetunion, wirt- schaftlich in der Sackgasse, gab ihre Unterstützung für nationalrevolu- tionäre Bewegungen in Lateiname- rika und der Dritten Welt auf.

Moskaus „neues Denken" stieß Lateinamerikas Revolutionäre als zu risikoreich und kostspielig ab - was auf dem Subkontinent erst jetzt deutlich begriffen wird und eine große Bestürzung auslöst. Die radi- kale Entstalinisierung in der So- wjetunion und das Zusammenbre- chen des realen Sozialismus in

Osteuropa lassen Lateinamerikas Marxisten orientierungslos zurück.

Haben also in Lateinamerika Kapitalismus und Imperialismus gesiegt?

Dieser Frage müssen sich heute Lateinamerikas Marxisten scho- nungslos stellen. Denn der revolu- tionäre Kampf bietet jetzt keine Perspektive. Guerilla-Herde trock- nen aus. Überall triumphiert der Neo-Liberalismus. Kommunisti-

sehe Parteien schrumpfen auf Unbedeutendes. Fidel Castros Kuba, das sich gegen „Glasnost" zu stemmen versucht, steckt in totaler Isolierung.

Realistische kommunistische Theoretiker gestehen den Verlust von zumindest einigen Schlachten ein. Orthodoxere versuchen sich mit dem Argument von der mo- mentanen Konjunktur des Kapi- talismus, welcher nichtsdestowe- niger seiner globalen Krise zusteu- erte, über das Vakuum zu retten. Eine attraktive Formel kann heu- te im marxistischen Lager Latei- namerikas, ohne originelle Denker wie seinerseits Mariategui, nie-

mand anbieten. Sogar die Volks- frontidee ist hoffnungslos verschlis- sen.

Wie verfahren die Situation ist, zeigte eine Tagung, zu der Kubas KP im März geladen hatte. Es kamen kommunistische Delegierte aus Argentinien, Kostarika, Uru- guay, der Dominikanischen Repu- blik, El Salvador und Honduras.

Nach langem Gerangel reichte es gerade für einen „Offenen Brief an die revolutionären und pro- gressiven Kräfte in Lateinamerika und der Karibik". Sein zentraler Punkt: Trotz der „momentanen Krise" des Sozialismus kann La- teinamerika im Rahmen des welt- weiten, von den USA dominierten Kapitalismus das Problem seiner Unterentwicklung nicht lösen; daher bedürfe es „profunder de- mokratischer Revolutionen", um Entwicklung und soziale Gerech- tigkeit zu schaffen, was wiederum die Basis für einen zukünftigen Sozialismus sein müsse.

Chile, das über eine der zahlen- mäßig stärksten und theoretisch fundiertesten KPs verfügt, unter- zeichnete das Havanna-Dokument aus parteiinternen Gründen nicht: Patricio Haies, Sprecher einer demokratischen Fraktion in der chilenischen KP, hatte gerade mit den stalinistischen Dogmatikern, die am Konzept des Volksaufstan- des festhalten, gebrochen.

Es hat den Anschein, als ob Fraktionskämpfe und weitere Spaltungen in kommenden Jahren das Schicksal des lateinamerika- nischen Kommunismus, der sich plötzlich nicht mehr an Moskau orientieren kann, sein werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung