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Perestrojka und Religion

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Sensationell: Zum 70. Jahrestag des Dekrets über die Trennung von Kirche und Staat wurde im UdSSR-Regierungsorgan ein Tabu-Thema behandelt: Religion.

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Sensationell: Zum 70. Jahrestag des Dekrets über die Trennung von Kirche und Staat wurde im UdSSR-Regierungsorgan ein Tabu-Thema behandelt: Religion.

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Lenins Dekret war nicht auf die „Vernichtung“ oder das „Verbot“ der Kirche und der Religion ausgerichtet, wie unsere Feinde schrieben und heute noch schreiben. Nein, das Dekret schuf die juristischen, organisatorischen und materiellen Voraussetzungen, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen jeder Bürger sein Verhältnis zur Religion frei bestimmen konnte: Gläubiger oder Atheist zu sein...

70 Jahre unserer Geschichte legen davon Zeugnis ab, daß Partei und Staat, von Lenins Prinzipien geleitet, hinsichtlich der Religion, der Kirche und der Gläubigen insgesamt auf richtigem Kurs waren, womit sie die Einigkeit der Bürger mit materialistischer und solcher mit religiöser Weltanschauung wahrten. Gläubige und Ungläubige beteiligten sich am Aufbau des Sozialismus und verteidigten seine Errungenschaften im Bürgerkrieg gegen die Interventionsmächte, während des großen Vaterländischen Krieges und beim Wiederaufbau nach dem Krieg.

Mit Gewißheit kann man sagen, daß auch heute die Gläubigen und die religiösen Organisationen, die in unserem Lande tätig sind, ja gesagt haben zur Perestrojka. In deren Fernzielen und ersten Schritten und Erfolgen erblicken sie die Sorge um die Verbesserung des Lebens des Volkes und die Erhaltung des Friedens und die Bestätigung der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und einer reinen sittlichen Atmosphäre in der Gesellschaft.

Es wäre freilich falsch, wollte man nicht auch die Verluste sehen. Da sind die negativen Erscheinungen der dreißiger Jahre. Persönlichkeitskult, Verletzung der Rechtsordnung, Willkür und Repression wirkten sich negativ auf die Realisierung der Politik gegenüber der Religion, den Kirchen und den Gläubigen aus. Maßnahmen, die voluntaristisch waren, aus Kommandos der Administration bestanden und mittels Verboten Einschränkungen auferlegten, fanden Unterstützung. Das Ergebnis war die massenhafte unbegründete Schließung von Gebetshäusern, Willkür im Umgang mit den Kultdienern, das Ignorieren der gesetzmäßigen Rechte der Gläubigen und ihrer religiösen Gefühle, woran man sich heute nicht ohne Bitternis erinnern kann. Während der Jahre der Stagnation entstand eine Kluft zwischen den wirklichen religiösen Verhältnissen und der lackierten Vorstellung von ihnen.

Die im April 1985 eingeschlagene Richtung auf eine alle Bereiche der Gesellschaft umfassende Erneuerung macht es nötig, sich erneut dem Sinn des Dekretes zuzuwenden. Dabei ist es unseres Erachtens unumgänglich, die konkreten historischen Bedingungen zu bedenken, unter denen es angenommen worden war. In jener Phase war das Dekret erstens ein Werkzeug, um die Gesellschaft von den feudal-bourgeoisen Einschränkungen der Gewissensfreiheit zu reinigen, befand sich doch die Kirche in der „Leibeigenschaft des Staates, während die russischen Bürger als Leibeigene von der Staatskirche abhingen“.

Zweitens schuf das Dekret die Voraussetzungen für die vollständige Verwirklichung des demokratischen Potentials des marxistisch-leninistischen Prinzips der Gewissensfreiheit in der Zukunft, in dem Maße, wie der Sozialismus sich entwickeln würde. Die Geschichte hat es so gefügt, daß die erste Aufgabe im Verlauf der Etappe des sozialistischen Aufbaus, der Vladimir Iljitsch Lenin vorstand, erfüllt wurde. Die Erfüllung der zweiten Aufgabe verschob sich um Jahrzehnte...

Jetzt, während der Demokratisierung, wird immer deutlicher über die Probleme im Zusammenhang mit dem Funktionieren der Kirche in einer sozialistischen Gesellschaft gesprochen. Jetzt wird eine Reihe von Hindernissen beseitigt, die auf dem Weg zur Gewährleistung echter “Gewissensfreiheit für alle Bürger liegt.

Die Anteilnahme religiöser Organisationen am Kampf um den Frieden hat sich merklich verstärkt. Sie nehmen teil an der Bewegung zur Bewahrung des historischen und kulturellen Erbes. Sie bereichern Formen der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen in unserem Lande und mit progressiven Bewegungen im Ausland. Das äußert sich wohltuend in der Erfahrung friedlichen Zusammenlebens gläubiger und ungläubiger Bürger und hilft beiden Seiten, vorhandene Zurückhaltung und Vorurteile abzubauen.

Trotzdem muß die praktische Anwendung der Prinzipien und Verfügungen des Dekrets und der auf ihnen abgestützten Normen in vielerlei Hinsicht vervollkommnet werden. Das geht besonders die örtlichen Verantwortlichen an. Die einen unter ihnen leisten Widerstand gegen das Neue, indem sie überlegen, „Zugeständnisse“ an die Kirche seien unzulässig. Andere, die unfähig sind, eine Beziehung zu den Gläubigen korrekt aufzubauen, warten auf Weisungen von oben. Sie wollen wissen, wie sie sich in jedem einzelnen Fall zu verhalten haben, und machen Aufsehen bei der Lösung von Bagatellfällen. Das veranlaßt dann Gläubige, Beschwerden nach Moskau zu senden. Allein letztes Jahr (1987) gingen beim Sowjet für religiöse Angelegenheiten mehr als 3000 Beschwerden ein...

Das geistliche Leben, das auf einer anderen als der unsrigen weltanschaulichen Grundlage beruht, nimmt seinen gewohnten Gang, strömt im eigenen Flußbett. Dieses Flußbett läßt sich weder administrativ liquidieren noch ideologisch mit dem unsrigen zu einem Strom vereinen. Wohl aber kann und muß man die Anstrengungen, die Bemühungen der Menschen um die allgemein menschlichen, moralischen und geistigen Werte, um den Frieden, um unser gemeinsames Wohl, vereinigen. Diese Einheit kann und muß man sicherstellen, selbst wenn wir darob alle in vielem wieder ganz vorn zu lernen anfangen müßten.

Diesem Ziel müssen auch die Vervollkommnung der Gesetzgebung über die religiösen Kulte und eine neue Auslegung des Prinzips der Gewissensfreiheit unter den Verhältnissen der Gegenwart durch Philosophen und Rechtswissenschafter dienen. Hier können wir bei den sozialistischen Bruderstaaten viel lernen.

Konstantin Chartschew ist Vorsitzender des Sowjets für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR. Auszüge aus einem von Eugen Voss übersetzten „Iswestija“-Artikel vom 26. Jänner 1988.

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