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Perfektes Theater

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Es gibt nicht mehr viele Boulevardiers. Begreiflich, die Zeiten schlagen ihnen die Kugelschreiber aus der Hand. Was sich täglich Grauenhaftes in aller Welt ereignet, läßt sich nicht leicht verdrängen. Und doch gibt es nach wie vor Lebensbereiche, die davon unberührt sind, die, vorgeführt, zwar nicht als signifikant, aber keineswegs als unwahr wirken. Das zeigt sich derzeit im Theater in der Josefstadt bei den vier Einaktern mit dem Sammeltitel „Vier Zimmer zum Garten“ von Pierre Barillet und Jean-Pierre Gredy, die mit Erfolg gespielt werden.

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Es gibt nicht mehr viele Boulevardiers. Begreiflich, die Zeiten schlagen ihnen die Kugelschreiber aus der Hand. Was sich täglich Grauenhaftes in aller Welt ereignet, läßt sich nicht leicht verdrängen. Und doch gibt es nach wie vor Lebensbereiche, die davon unberührt sind, die, vorgeführt, zwar nicht als signifikant, aber keineswegs als unwahr wirken. Das zeigt sich derzeit im Theater in der Josefstadt bei den vier Einaktern mit dem Sammeltitel „Vier Zimmer zum Garten“ von Pierre Barillet und Jean-Pierre Gredy, die mit Erfolg gespielt werden.

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Vier Zimmer? Nein, es ist nur eines, in dem sich nacheinander mancherlei zwischen verschiedenen Paaren begibt. Zwei Eheleute, die sich getrennt haben, finden doch nicht wieder zueinander, ein alternder Roue verzichtet schließlich auf die Heirat mit einer Jungen, eine reiche Frau wird Minderwertigkeitskomplexe durch einen Zimmermaler los, eine aktiv Attraktive hat mit ihrem Liebhaber den alten Gatten beseitigt, defr Mittäter kommt aber nicht darüber hinweg. Alle Gestalten sind bis in kleinste Züge vortrefflich durchgezeichnet, sehr menschliche Schwächen werden spürbar, man schmunzelt über diesen homo-sapientischen Tiergarten. Der Erfolg ist aber auch ein Verdienst der unbeschwerten Regie von Peter Loos und vor allem der beiden Schauspieler, die in allen vier Stücken die Paare spielen: Hilde Krahl verkörpert vollendet völlig gegensätzliche Frauengestalten, Karl Schönböck ist ihr ein gleichwertiger Partner.

Die sizilianische Stadt Catania hat eine Theatertruppe, die ständig in zwei Häusern spielt, wobei eines der beiden Ensembles auf sizilianische Autoren spezialisiert ist. Pirandello war bekanntlich Sizilianer und schrieb zunächst Bühnenwerke im sizilianischen Dialekt, so im Jahr 1916 das im.,, deutschsprachigen Bereich fast unbekannte Volksstück 1 „Liolä*; das vom Teutrro Stabile di Catania im Theater an der Wien aufgeführt wurde. Da gibt es neun Frauen um zwei männliche Antipoden, um den umschwärmten, sympathischen Sexlackel Liolä, der im mütterlichen Haushalt drei von auswärtigen Weibern stammende kleine Söhne liebend versorgt, und um den alternden reichen Bauern, den die Sehnsucht nach einem Sohn verzehrt, wdfür freilich die Voraussetzungen bei ihm fehlen. Von piran-delleskem „Schein und Sein“, von „Maske“ keine Spur. Hier bietet sich ein prächtiges Schwankmotiv, denn selbstredend glaubt der Alternde schließlich, das Kind, das seine Frau nach vier Jahren erwartet, sei von ihm. Wird es ein Schwank? Nicht so ganz, Fruchtbarkeitsmythen treiben literarisch gebändigt Allotria, aber es blitzt auch ein Dolch wider den anscheinend unverwundbar pria-pischen Dorfhelden. Die Sizilianer spielen das — seltsamerweise in italienischer Fassung — unter der Regie von Twri Ferro, der auch wendig heiter den Liolä darstellt, mit überschäumendem Aufwand an südlichem Temperament und südlichen Gesten.

* i

Produktionen der „ETC Company“, Kerntruppe der von Ellen Stewart gegründeten „La Mama, New York“, waren im Vorjahr bei den Berliner Festwochen, heuer in Zürich zu sehen. Nun wurden sie von der farbigen Gründerin im Museum des 20. Jahrhunderts vorgeführt. „The only Jealousy of Emer“ des Iren William Butler Yeats wird nicht gesprochen, sondern gesungen dargeboten. Einen toten irischen König aus sagenhafter Zeit will sein Weib wiedererwecken, aber es gelingt nur mit Hilfe der einstigen Geliebten, Lust wird Gestalt, umtanzt ihn, die arme Königin hat das Nachsehen. Unter der Regie von John Braswell und Wilford Leach lösen sich die Vorgänge in langsamen feierlichen Bewegungen nur wenig aus der Dunkelheit, da, dort hellt ein Kopf heraus. Man denkt an die melancholischen Träume eines Burne-Jones, an seine weltferne, artifizielle Schönheitswelt. Erst durch die Szene sinnlicher Verführung verliert sich dieser Eindruck. Die Musik von Barbara Benary ist voll seltsamer Klänge, hämmert schicksalsschwer auf uns ein. Die jüngere Generation unter den Zuschauern allerdings wird zu diesen Seelenbereichen vermutlich kaum noch einen Zuweg finden.

In der danach aufgeführten Groteske „Renard“ von Igor Strawinsky, der Leach und Braswell eine sehr freie Fassung gaben, steppen unter der Regie der Bearbeiter die Darsteller von Hahn, Katze und Ziege — blaugeschminkte Gesichter und Arme, weiß umhüllt, rote Socken — in temperamentvoller Lebhaftigkeit. Den Fuchs aber, Nickelbrille, brauner Pelz und endlos langer Schweif, erledigen sie blutig. Das wird zu einer witzigen Burleske vehementer Ausgelassenheit, endend in Turbulenz.

Der nächste Abend brachte eine szenische Paraphrase, „Gertrude“, um die Dichterin konkreter Poesie, Gertrude Stein, die erste Lebensjahre in Wien verbrachte und in Paris bekanntlich mit Picasso, Matisse, Juan Gris, mit Ezra Pound, Hemingway, Cocteau befreundet war. Diese häßliche Person, angezogen wie eine Pensionatsvorsteherin, wird hier von einem männlichen Engel besucht, der ihr vergebliche Anträge macht, sie ergeht sich spa-zieread mit der verrückt-ekstatischen Isadora Duncan, ein überlanges Mannsbild stellt das Hündchen „Ernest“ dar, womit Ernest Hemingway gemeint ist, der zu knurren und zu bellen hat, wenn ihm etwas an den beiden Weibsstücken nicht paßt. Diese Mischung von profiliertem Unsinn und Sinn, von versteckter Bewunderung und Persiflage wird von den überaus agilen Darstellern auf der sich fast unentwegt bewegenden Drehbühne vorwiegend steppend zu witziger Wirkung gebracht. Text von Wilford Leach, Musik von Ben Johnston.

Danach sah man das Stück „Demon“, das Leach nach einem Nö-Spiel von Zeami, dem Begründer dieser Spiele, geschrieben hat. Eine Prinzessin spottet eines alten Gärtners, der sie liebt, als er im nahen See den Tod sucht, setzt ihr ein in seinen Tiefen schlafendes Ungeheuer strafweise arg zu. Die Prinzessin steht auf den Schultern der unter ihrem kostbaren Gewand versteckten Darsteller, die dann als Verkörperung des Ungeheuers, zugleich strafender Teil ihres Ichs, daraus hervorbrechen. Die Musik schrieb John Braswell.

Dieser Braswell komponiert also nicht nur, er bearbeitet Stücke, führt Regie, ist als Darsteller tätig, er singt, steppt mit erstaunlicher Technik. Generell zeigt sich, daß die Darsteller von „La Mama“ als All-roundschauspieler auch geschulte Sänger, Tänzer, Akrobaten sind. Welcher Gegensatz zu unseren Schauspielern. Jedenfalls wurde von „La Mama“, wie von den Sizilianern, aber auch in der „Josefstadt“', perfektes Theater geboten.

• Prof. Hugo Ellenberger, Lehrer der Wiener Musikhochschule, wurde im Wiener Rathaus durch Frau Vizebürgermeister Gertrude Fröhlich-Sandner das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien in Würdigung seiner großen Leistungen auf dem Gebiete der Wiener Volksbildung überreicht.

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