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Perspektiven für eine Befreiung Lateinamerikas

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Bekannt - und umstritten - ist die Theologie der Befreiung. Aber gibt es auch eine „Philosophie der Befreiung"? Gibt es überhaupt eine Philosophie in Lateinamerika? Diese war bis vor kurzem nur wenigen bekannt, im deutschen Sprachraum wurde sie kaum rezipiert. Gegenüber dem nun offenkundig werdenden positiven Tatbestand muß eine massive Praxis der Ausgrenzung, sprich: Verdrängung der lateinamerikanischen Philosophie seitens der westlichen Institutionen festgestellt werden.

Umso wichtiger und ernster muß daher eine Publikation genommen werden, die als erste im deutschen Sprachraum explizit die Philosophie eines Mannes vorstellt, der heute nachweislich im lateinamerikanischen Kontext in allen Debatten um Befreiung eine führende Rolle spielt: „Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels." Dussel wurde 1934 als Sohn einer Arztfamilie in Argentinien geboren, verbrachte zehn Jahre in Deutschland.

Er kennt also die europäische Philosophie und Theologie aus eigenen Studien und aus den Quellen. 1967 kehrte er wieder in seine Heimat zurück. Nach der Machtübernahme durch Peron mußte er aufgrund der lebensbedrohlichen Situation 1975 nach Mexiko emigrieren, wo er heute noch lebt.

Der Verfasser, Hans Schelkshorn, Assistent am Wiener Institut für Christliche Philosophie, ist wie kein anderer berufen, in die „Philosophie der Befreiung Enrique Dussels" einzuführen. Er konnte bei mehreren Treffen mit Dussel seine Thesen überprüfen und festigen, viele Schriften übersetzte er selbst, sodaß die Studie schon durch die im Text abgehobenen ausführlichen Zitate Quellenwert besitzt.

Die Einführung in die Philosophie Dussels ist auch eine Einführung in die Philosophie der Befreiung, die aber nicht in einem ideologischen Gewand auftritt, sondern nur als „Ethik der Befreiung" zu konkretisieren ist.

Befreiung ist aber nicht bloß ein

Thema Dussels unter anderen, sondern die Grundlage der philosophischen Reflexion selbst: „Die Befreiung der Philosophie aus einer vermeintlichen Universalität ist Voraussetzung dafür, den Befreiungsweg der Armen in dieser Welt reflexiv mitgehen zu können." Aus dieser doppelten Erfahrung entspringt eine Ethik, die in diesem Band entfaltet wird.

Die sieben Kapitel des Buches lassen zwei Teile erkennen: Im ersten Teil wird die Hinführung zum Thema, Dussels Destruktion der europäischen Philosophie und die Einordnung seines Konzepts gegenüber Hegels Geschichtsphilosophie dargelegt. Der zweite Teil geht ausführlich auf die metaphysische und ethische Dimension dieses Denkens ein: Nicht nur Dussel, sondern auch Gustavo Gu-tierrez, einer der „Väter" der Theologie der Befreiung, anerkennen, wieviel sie dem in Paris lehrenden europäischen Philosophen jüdischer Herkunft, Emmanuel Levinas,verdanken.

In fast wörtlicher Aufnahme seiner Gedanken tritt daher die Ethik Dussels als „Logik der Anderheit" auf, die in der Interpretation Levinas danach strebt, den Totalitätsanspruch aller dialektischen Systeme zu überwinden, um dadurch überhaupt erst ethisches Verhalten zu ermöglichen. Freilich habe Levinas Philosophie eine fatale Folge: Im ekstatischen Verharren vor dem „Antlitz" des anderen droht die neu gewonnene Ethik allzuleicht folgenlos zu bleiben: Der andere wird so absolut gedacht, daß er unerkennbar bleibt. Daher wird im fünften Kapitel die „Nähe zur Befreiung", zur konkreten Aktion hin überwunden.

Dieser lebt in den im sechsten Kapitel erläuterten „Perspektiven für eine Befreiung Lateinamerikas" noch deutlicher auf, bevor letztlich die „Philosophie der Befreiung als prophetisches Denken" und damit nahe zur Theologie der Befreiung angesiedelt wird.

Freilich bleiben auch Fragen wie diese: Ist das Schema der Dependenz-Theorie, das heißt der Abhängigkeit von Zentrum und Peripherie, das bei

Dussel wie bei vielen anderen Autoren als selbstverständliches Analyse-Instrumentarium vorausgesetzt ist, wirklich die einzige treffende Möglichkeit, die Wirklichkeit Lateinamerikas unter politologischen, soziologischen und ökonomischen Gesichtspunkten zu begreifen? Ist das, was der junge Marx, aber auch der des „Kapitals" an ontologischen und ethischen Kategorien einbringt, trotz aller Kritik Dussels, wirklich so viel besser geeignet, Perspektiven der Befreiung zu eröffnen? Hier wäre eine stärker differenzierende, kritische Stellungnahme des Autors wünschenswert.

Diese Fragen können den Wert der Arbeit als ausgezeichnete Darstellung, durchsichtige Interpretation und hervorragende Einführung nicht schmälern - im Gegenteil: Die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung wird nach 500 Jahren „Christianisierung" (wessen?) durch diese Pionierleistung nur umso deutlicher. ETHIK DER BEFREIUNG. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels. Von Hans Schelkshorn. Verlag Herder, Wien 1992. 171 Seiten, öS 224,60.

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