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Pferd und Nachtigall

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Man fragte jemanden, welche Bücher den größten Einfluß auf sein Leben hatten, und er antwortete: „Das Scheckbuch meines Vaters und das Kochbuch meiner Mutter.“ Ich könnte so nicht antworten, denn mein Vater besaß kein Scheckbuch und meine Mutter kein Kochbuch.

Sie kochte fabelhaft — wie sie es bei ihrer Mutter gelernt hatte, deren Kochkünste in der ganzen Umgebung berühmt waren.

Heute hat fast jeder Schecks in der Tasche und Kochbücher im Regal. Es gibt unheimlich viele Kochbücher — etwa jeden zweiten Tag erscheint ein neues Kochbuch in deutscher Sprache. Es gibt nichts, was es nicht gibt: von Omas Hausküche bis zu Gerichten der alten Ägypter; Rezepte für aufwendige Festmahlzeiten und Schnellgerichte für kochfaule Junggesellen; historische Bücher und solche, die sich in die Zukunft vorpirschen, in der wir uns von Algen ernähren werden; sachliche Werke, die nur Rezepte bieten und solche, aus denen man die Kulturgeschichte der Menschheit herauslesen kann.

Es gibt prachtvolle Schlemmerbücher — man braucht nur die Bilder anzuschauen und die Aufzählung der Zutaten zu lesen, und schon läuft einem das Wasser im Mund zusammen — und grimmige Sammlungen von Diätvorschriften, die allein durch ihr medizinisch-apothekarisches Vokabular einem das Essen vermiesen.

Es gibt Bücher für Genießer und für Leute, die das Essen als Pflicht ansehen, mit der man so schnell und so einfach wie möglich fertig werden muß; und auch Kochbücher für Snobs, die nur Vornehmes und Teures essen, egal, ob es ihnen schmeckt.

Kochbücher sind eine faszinierende Lektüre, selbst die snobistischen, die eine Mischung aus Sittengemälde und unfreiwilligem

Humor bieten; jene nach Krankenhaus riechenden Rezepte können immer noch als Lesestoff für Masochisten brauchbar sein.

Das Kochen nach Kochbuch ist wiederum eine andere Sache. Möglich ist es heute durchaus, weü man in unserer Wohlstandsgesellschaft selbst die exotischsten Zutaten bekommen kann. Würde man sich allerdings für die Nachtigallenzungenpastete der alten Römer entscheiden, würde man wohl nach der Methode jenes

(Rheinischer Merkur)

Herstellers verfahren müssen, der für dieses Produkt Nachtigallen-und Pferdefleisch mischte (im Verhältnis eins zu eins — eine Nachtigall, ein Pferd).

Die Leckerbissen der Wikinger, der mittelalterlichen Mönche, der Zulus oder der Peruaner müssen nicht jedem von uns munden. Dies ist jedoch kein Problem, man kann es durch Experimentieren feststellen - und die Auswahl an Rezepten ist so groß, daß man für jeden Geschmack etwas findet. Das Problem liegt woanders. Ein Kochbuch ist wie ein Witzbuch — beide bieten keine fertigen Genüsse, nur Vorlagen. Ob das Gericht oder der Witz gut werden,. hängt davon ab, wie man sie zubereitet und serviert. Ein bißchen Talent muß man schon haben.

Eine Bekannte von mir kochte einmal für Gäste einen „Proven-zalischen Eintopf“ genau nach Rezept. Er schmeckte nach nichts. Es ist uns noch gelungen, dieses Zeug improvisiert in ein Gericht zu verwandeln, das in etwa der ungarischen „Kolozsvaros-Ka-puszta“ ähnelte.

Ich habe zu Hause an die fünfzig Kochbücher verschiedener Art. Ich lese sie gerne und lasse mich von ihnen inspirieren. Zu kochen versuche ich jedoch immer improvisiert, nach eigenem Geschmack - genau nach Rezept kann ich nicht.

Kochen ist eine Kunst, und in der Kunst sind Rezepte im besten Fall nur Hilfsmittel, Sprungbretter für die eigene Phantasie.

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