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Pfingstmesse in Leningrad

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Am Tag vor der Reise von Moskau nach Leningrad fand in der österreichischen Botschaft das bei solchen Besuchen übliche Mittagessen statt. Rdchtigerweise muß ich sagen „Frühstück“, weil es im diplomatischen Gebrauch kein Mittagessen, sondern nur ein „Frühstück“ zur Mittagszeit gibt. Daran nahmen Mikojan, Fatoljitschiwe, der sowjetische Außenhandelsminister, ein weiterer sowjetischer Minister für Industrieangelegenheiten, mehrere Staatssekretäre und zahlreiche sowjetische Beamte teil. Während der mehr oder minder belanglosen Gespräche bei Tisch fragte mich Mikojan, ob ich besondere Wünsche für meinen Aufenthalt in Leningrad hätte und alles diesen Wünschen entsprechend vorbereitet wäre. Das festgelegte Protokoll sah eine Begrüßung durch den Bürgermeister am Bahnhof, meinen Höflichkeitsbesuch im Rathaus, eine Betriebsbesichtigung und natürlich eine Stadtrundfahrt und einen Besuch der weltberühmten Eremitage vor. Ich zählte diese Programmpunkte rasch auf und fragte dann, ob es möglich wäre, auch einen katholischen Gottesdienst au besuchen, den ich gerade am nächsten Sonntag, dem Pfingstsonntag, nicht vermissen wolle. Diese Frage löste sichtlich lähmendes Entsetzen bei unseren russischen Gästen aus, aber Herr Mikojan meisterte die Situation sofort, indem er den Herrn des russischen Protokolls, der mich während meines ganzen Aufenthaltes in der Sowjetunion begleitete, anwies, entsprechend vorzusorgen. So weit, so gut!

Abends fanden wir uns rechtzeitig am Bahnhof ein, um mit dem Schlafwagenexpreß „Roter Pfeil“ die Reise nach Leningrad anautreten. Dabei stellte sich nun heraus, daß dem russischen Protokoll ein Fehler unterlaufen war; es waren nicht genügend Schlafwagenplätze reserviert. Vier oder fünf Herren waren mehr, als das Protokoll irrtümlich angenommen hatte. So etwas stellt im allgemeinen ein unlösbares Problem dar, weil es natürlich nach westlichen Begriffen einfach unmöglich ist, in fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges Abhilfe zu schaffen. Nicht so in der Sowjetunion. Besagter Vertreter des Protokolls rief einfach zwei bis auf die Zähne bewaffnete Posten der Bahnhof sw ache herbei und ließ fünf Schlafwagencoupes augenblicklich von ihren unglücklichen Besitzern räumen. Obwohl wir dagegen protestierten und uns bereit erklärten, einfach zusammen^urücken, blieb es bei dieser Maßnahme. Wir haben dann sehr gut in den großen und bequemen Schlafwagen der russischen Bahnen geschlafen.

Bei unserer Ankunft in Leningrad am nächsten Morgen wurde mir sodann mitgetedlt, daß der Besuch eines katholischen Gottesdienstes für zehn Uhr des nächsten Tages, des Sonntags, angesetzt sei. Und dann spielte sich das Zeremoniell folgendermaßen ab: Um neun Uhr erschien die gesamte russische Bagleitang zum Frühstück — hier handelte es sich wirklich um das Frühstück — bei mir dm Hotel und begleitete mich und die österreichischen Herren nach Beendigung der Mahlzeit dm großen Autakomvoi bis zu einer Kirche, von der ich bereits erfahren hatte, daß es sich um die einzige katholische Kirche Leningrads handle, die noch „in Betrieb“ sei und von zwei alten polnischen Geistlichen betreut werde. So fuhren wir also bis zum Kirchenportal. Dort verabschiedete sich die gesamte russische Begleitung. Selbst mein ständiger Protokollbegleiter blieb zurück, und wir betraten unter der begreiflichen, großen Aufmerksamkeit der die Kirche bis zum letzten Platz füllenden Gläubigen das Gotteshaus, wurden von den beiden geistlichen Herren freundlich begrüßt und zu großen, mit rotem Plüsch bespannten, bequemen Fauteuils vor dem Altar geleitet.

Dann begann der Pfingstgottesdiemst, an den sich ein Wechselgesang in russischer Sprache anschloß. Der Zelebrant sang jeweils mit seiner alten brüchigen Stimme einen Vers vor, und die ganze Gemeinde wiederholte ihn. Natürlich verstanden wir kein. Wort, aber die schwermütige Melodie dieses typisch slawischen Liedes rührte uns alle zu Tränen. Nachher verließen wir unter schweigendem Verharren der Gläubigen wiederum die Kirche, wobei uns der alte Priester bis vor das Portal, vor dem sich inzwischen eine große Menschenmenge angesammelt hatte, begleitete. Draußen aber standen wiederum unsere sowjetischen Freunde; mit ihnen bestiegen wir unsere Wagen, und der Autokonvoi setzte sich in Bewegung. In diesem Augenblick hob der alte Geistliche seine Hände und sprach mit weitausholendem Kreuizzeichen seinen Segen über Gläubige und Ungläubige. Es war der eindrucksvollste Pfinigstgottes- dienst meines Lebens.

Aus dem im Herold-Verlag erschienenen Erinnerungsbuch von Minister a. D. Fritz Bock, „Im Protokoll nicht vorgesehen“.

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