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Pfingstreise nach Menton

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Der Schüler, von dem es heißt, daß er es den Lehrern und Eltern nicht leicht mache, macht es sich selber schwer. Nach dem Unterricht fährt er mit seinem Fahrrad zum Bahndamm südlich der Stadt, wo er den Zügen nachschaut. So klein ist seine Welt, daß Europa noch Fernweh bereithält. Während der Stunden, die er im Gras liegt, zuckt es und zerrt es in ihm, es tut weh. Er weiß diesen Schmerz nicht zu deuten, wie könnte ein Fünfzehnjähriger auch den Satz aussprechen: Das ist meine Welt, die wächst.

Wenn in der Schule — das Fenster steht offen, es ist Mai oder Juni—das Zwölf uhrläuten der Stadt in die Sätze des Lehrers fährt, der einfach weiterredet, als geschehe nichts, als würde die Zeit jetzt nicht mit einem Schwertstreich zerschnitten, dann sind es italienische Glocken die läuten, Florenz, Assisi, Lucca brechen herein und der Lehrer spricht weiter, die ganze Sehnsucht eines Jungen im Klassenzimmer bremst seine Worte nicht.

Rasch aus den Straßen hinaus, obwohl man in diesen Altstadtgassen im letzten Jahr Jeannot begegnet ist, dem kleinen Franzosen, der einige Wochen lang hier verbrachte, um Deutsch zu lernen. Man war plötzlich, jeder von seiner Sehnsucht getrieben, einander gegenüber gestanden und hatte den anderen Knaben geliebt. Auch Jeannot lebt in diesem Zwölfuhrläuten.

Im Postfach eine Karte, die ein wenig Mittelmeer, eine Stadt voller Blumen, eine vertraute Schrift zeigt. Die Freude, der Tag ist gerettet, wenigstens dieser eine Tag! Jeannot schreibt aus Menton, er ist dort mit den Eltern in einem Hotel, er langweilt sich mit den vielen Erwachsenen, es wäre so schön in Menton, schreibt Jeannot, wenn Du nur hier bei mir sein könntest.

Der Schüler wundert sich, wird sich ein Leben lang wundern, wie billig der Ausbruch zu kaufen ist. Auch das Sparbuch eines Fünfzehnjährigen reicht aus, eine Bahnfahrkarte nach Menton und retour zu erstehen, Taschengeld bleibt, einen Paß hat er längst, dieser Vielgereiste unter den Kindern. Eine Notiz auf den Küchentisch: Sucht mich nicht, macht Euch keine Sorgen, in einigen Tagen bin ich wieder zurück.

Einen Tag und eine Nacht dauert die Bahnfahrt nach Menton, zerstückelt wird einem jeder Weg, Umsteigen heißt es in Innsbruck, in Mailand, in Genua, große, ungenaue Städte hindern einen auf der Fahrt zu dem kleinen und klaren Jeannot.

Der kleine Bahnhof von Menton zur Mittagszeit. Die Sonne, eine andere Sonne dort oben, wo man zur Schule geht. Man weiß nicht, wo Jeannot sich aufhält. Ein Auskunftsbeamter auf dem Bahnhof belehrt den Jungen, daß es allein in Menton, von der Umgebung zu schweigen, über einhundert Hotels gibt. Er verweist den Erschrockenen an das Polizeikommissariat der Stadt. Jeder Hotelgast sei schließlich registriert, vielleicht könne ihm dort geholfen werden. '

Aber die Polizei erklärt dem Knaben, daß aus dem Fremdenregister keine Auskünfte erteilt würden.'Da könnte ja, um es drastisch zu sagen, ein Mörder nach seinem Opfer suchen. Gewiß, erwidert der Fünfzehnjährige, mais moi, je cherche mon ami. Da lacht der Kommissar und schlägt dem Jungen, der blaß ist von der schlaflosen Nacht in den Zügen, eine ungewöhnliche Hilfe vor. Er, der ihm die gewünschte Auskunft aus rechtlichen Gründen verweigern muß, wird ihn in seinem Wagen von Hotel zu Hotel bringen. Man wird jeweils an der Rezeption nach Jeannots Eltern fragen, bis die Gesuchten gefunden sind.

Die verschmitzte Komplizen-haf tigkeit all jener, die guten Willens sind. Sie finden das rechte Hotel, aber die Gäste sind außer Haus, wohl am Strand, vermutet das Empfangsmädchen. Ob noch ein Einzelzimmer verfügbar sei, was es kostet? Ja, der Schüler kann es sich leisten. Ihm ist, als ob er sich erstmals im Leben etwas — und ab heute alles—leisten könne. Er geht auf sein Zimmer. Ein wenig zu schlafen, daran denkt er nicht. Er läuft hinunter zum Strand. So viele Menschen sind da, viel zu viele, und dann ist da keiner mehr, als Jeannot und sein Freund einander umarmen.

Am nächsten Tag spazieren die Kinder hinauf zum Terrassenfriedhof hoch über der Stadt. Unten ist Pfingsten, die Straßen sind festlich überfüllt, die Prozession am Morgen haben die Glücklichen verschlafen. Ein heißer Wind rüttelt an den beiden, rüttelt an den erregten Palmen, rüttelt am blauen Himmel über ihnen, der zu vibrieren scheint. Das Meer wirft schaumige Kronen, so weit das Auge reicht. Einmal wird der Sturm so wild, daß die Buben einander an den Händen halten. Das ist der Schirokko, meint Jeannot, der sich hier auskennt, der bläst von Afrika über das Meer herüber, und wenn er endlich nachläßt, ist alles voller Wüstensand. Merkst du, wie die Haut zu brennen scheint?

So ist das Glück beschaffen. Ein wenig Ausbruch, ein bißchen Sturm, das ewig pubertäre Meer, eine irrlichternde Liebe, der Friedhof voller lockender Namen. Aus der halben Welt sind sie hierher gekommen, die Lungenkranken, die Liebeskranken, die mit ihrer Heimat nicht Zufriedenen, und haben hier, wenn schon nicht das Glück, so doch die Ruhe gefunden. Jeannot sagt zu seinem Freund, während sie im Schatten eines Grabmals sitzen: Merkst du, wie wir zwei im Gleichschritt atmen? Dann lachen die Kinder. Und das Brausen vom Himmel und die Feuerzungen südlicher Sonne, und die vielen gar nicht toten Toten um sie: Ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.

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