7056580-1991_20_08.jpg
Digital In Arbeit

Pflegevorsorge - eine Chance für mehr Lebensqualität

19451960198020002020

Auf der einen Seite wenig Begeisterung der Betroffenen, ins Heim übersiedeln zu müssen, auf der änderen Seite Kostenexplosion im Gesundheitssektor. Ein Vorarlberger Modell finanzieller Zuschüsse weist einen Ausweg.

19451960198020002020

Auf der einen Seite wenig Begeisterung der Betroffenen, ins Heim übersiedeln zu müssen, auf der änderen Seite Kostenexplosion im Gesundheitssektor. Ein Vorarlberger Modell finanzieller Zuschüsse weist einen Ausweg.

Werbung
Werbung
Werbung

Bernhard W. ist 38. Anna S. ist 76. Beide sind bei der Befriedigung ihrer alltäglichen Bedürfnisse auf fremde Hilfe angewiesen. Bernhard W., weil er sich durch eine Erkrankung an Knochen-Tbc nur mittels Rollstuhl fortbewegen kann. Anna S., weil sie die Sehkraft auf beiden Augen fast verloren hat. Beide wissen aber sehr genau was sie wollen. Sie möchten in ihrem persönlichen Lebensbereich bleiben. Und sie möchten nicht auf mitleidige Hilfe von Freunden und Verwandten angewiesen sein. Sie möchten für diese Leistungen einen angemessenen Preis bezahlen können. Damit sie nicht aus Dankbarkeit auf Kritik verzichten müssen. Damit sie nicht in unfreiwillige Abhängigkeit geraten.

Bernhard W. hat zwölf Jahre gearbeitet. Seine Berufsunfähigkeitspension ist knapp über dem Existenzminimum. Anna S. hat über 40 Jahre im

eigenen und in fremden Haushalten gerackert. Das Einkommen war gering, die Pension ist noch niedriger. Der Hilflosenzuschuß macht beide nicht wesentlich reicher.

Fehlende Lobby

Die Betroffenen leiden schon lange an dieser entmündigenden Organisation des österreichischen Gesundheitswesens. Ein Großteil der Betroffenen sind ältere Menschen, die keine politische Lobby hinter sich haben. Die diversen Behindertenverbände kämpfen fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit um eine Reform der Pflegevorsorge. Ausnahmen bilden spektakuläre Aktionen ä la Hungerstreik in der Säulenhalle des Parlaments im Herbst 1990.

Trotzdem kommt jetzt schön langsam Bewegung in die Sache. Der Bericht der Arbeitsgruppe „Vorsorge für pflegebedürftige Personen" der Bundesregierung ist seit Mai 1990 fertig. Damit sollten Umfang und Art des künftigen und langfristigen Pflegebedarfs festgestellt, alternative Leistungssysteme und Varianten für deren Bedeckung ausgearbeitet werden. Ziel der Pflegevorsorge ist demnach die bundesweite Abdeckung des Pflegerisikos durch Geld- und/oder

Sachleistungen. Unabhängig vom Grund der Behinderung.

Derzeit sind Pflege- und Hilflosen-gelder sowohl von der Anspruchsvoraussetzung als auch von der Höhe völlig unterschiedlich geregelt. Die Bandbreite reicht von der einstufigen Sozialversicherungs-Variante mit einer Maximalhöhe des Hilflosenzu-schußes von rund 2.900 Schilling bis zur sechsstufigen Pflegezulage für Kriegsopfer mit einer Maximalhöhe von rund 24.000 Schilling. Dazwischen liegen sechs weitere Sonderregelungen.

Zusätzlich erschwert wird der Ent-scheidungsprozeß noch durch unterschiedliche Kompetenzen des Bundes und der Länder. Es müssen daher jeweils Staatsverträge gemäß Art. 15a Bundes verfassungsgesetz abgeschlossen werden.

Modell Vorarlberg

Glücklich jene pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen, die im Ländle leben. Landesregierung und Gemeindeverband haben mit Jänner 1990 einen siebenstufigen Pflegezuschuß eingeführt. Mittels rechtlicher und organisatorischer Rahmenbedingungen wurde eine Vernetzung aller Pflegeleistungen des Landes, der

Sozialversicherung und des Bundes geschaffen. Rund 8.700 pflegebedürftige Personen wurden dadurch erfaßt. Doppelleistungen und unterschiedliche Leistungen für denselben Pflegeaufwand konnten dadurch weitgehend verhindert werden. An 1.896 pflegebedürftige Menschen wurden insgesamt 48,4 Millionen Schilling ausbezahlt. Davon hatten 344 Personen bisher keinerlei Zuschüsse erhalten. Abgesichert wurden diese Leistungen durch flankierende Maßnahmen für Hauskrankenpflege und Hausarzt.

Basis des Modells ist ein siebenstufiges Pflegestufen-Schema, das die Schwere der Pflegebedürftigkeit und Qualität der notwendigen Assistenz berücksichtigt. Gleichartige Leistungen, wie ein Hilflosenzuschuß werden angerechnet. Stufe eins beträgt demnach 2.230 Schilling, Stufe sieben 15.000 Schilling. Diese Beträge sollen, so Landesrat Fredy Mayer, möglichst rasch angehoben werden.

Der Antrag kann unbürokratisch beim zuständigen Gemeindeamt eingebracht werden, die Zuerkennung erfolgt rasch ab dem folgenden Monat. Für die Begutachtung ist der Hausarzt zuständig. Empfänger ist grundsätzlich die pflegebedürftige Person selbst.

Die wichtigste Zielgruppe dieser Neuregelung sind primär ältere Menschen: 84,1 Prozent der Pflegezuschußbezieher sind älter als 60 Jahre. Da der Anteil der Bevölkerung im Pensionsalter in den nächsten Jahren drastisch ansteigt, sieht Landesrat Mayer in diesem Modell nicht nur eine menschenwürdige, sondern auch eine ökonomisch dringend notwendige Lösung: „Die Betreuung in Heimen hätte den siebenfachen Aufwand bedeutet. Außerdem • sind die menschlichen Ressourcen erschöpft, zusätzliches Pflegepersonal ist nicht mehr re-

krutierbar." Diese Vorarlberger Initiative hat für die übrigen Bundesländer Beispiel wirkung. Tirol und Oberösterreich planen ebenfalls die Einführung des Pflegezuschußes.

Es wird verhandelt

Auf Bundesebene wurde im Koalitionsabkommen der Regierungsparteien eine bundeseinheitliche Neuordnung vorgesehen. Derzeit verhandeln Expertengruppen über die Details, wobei sowohl bei den Ländern als auch im Sozialministerium der Wunsch besteht, daß die Neuregelung bereits mit Jänner 1992 in Kraft tritt.

Der Präsident des Österreichischen Hilfswerkes, Staatssekretär Günter Stummvoll, ist überzeugt, daß das siebenstufige Modell aufwandsneutral wäre, wenn die derzeit für Hilflosen-zuschüsse (zirka neun Milliarden Schilling) und Pflegegelder (zirka drei Milliarden Schilling) verwendeten Mittel dafür verwendet werden.

Die Kosten für den Aufbau der erforderlichen Infrastruktur sollten, so Stummvoll, aus dem Krankenanstaltenzusammenarbeitsfonds (Krazaf) kommen. Zur Erleichterung der Organisation soll ein flächendeckendes Netz von Sozial- und Gesundheits-sprengeln entstehen, das den besonderen Bedürfnissen jeder Region angepaßt werden kann.

Mit der Neuregelung des Krazaf soll, so Gesundheitsminister Harald Ettl, spätestens ab Jänner 1994 die Hauskrankenpflege zu einer Pflichtleistung der Versicherungen erklärt werden. Ebenso soll das Honorie-rungssystem für Ärzte in Richtung Leistungsbezogenheit verändert werden. ,

Weitere flankierende Maßnahmen, wie die Möglichkeit eines begünstigten Sozialversicherungsschutzes für betreuende Familienmitglieder, werden vermutlich erst im Zuge der großen Pensionsreform geschaffen werden.

Pflegebedürftigen Menschen außerhalb Vorarlbergs bleibt also derzeit nur die Hoffnung, daß die Neuregelung der Pflegevorsorge nicht mehr längerauf die Koalitionsbank geschoben wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung