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Phantomschmerzen bleiben

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Vor 70 Jahren jubelten die Völker Europas: Ein verhaßtes Joch - Dynastie, Bürokratie und Armee -konnte abgeschüttelt werden. Sind die Wunden heute vernarbt?

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Vor 70 Jahren jubelten die Völker Europas: Ein verhaßtes Joch - Dynastie, Bürokratie und Armee -konnte abgeschüttelt werden. Sind die Wunden heute vernarbt?

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Auf das Vielvölkerreich folgten die sogenannten Nationalstaaten, die Monarchie wurde von unterschiedlich konstruierten Republiken abgelöst. Das heißt nicht ganz. Denn Ungarn verharrte nach dem kurzlebigen Experiment mit der Demokratie und der Räterepublik weiterhin im Königtum, allerdings ohne König, Kroatien-Slavonien ging samt den von Ungarn abgetrennten Gebieten im südslawischen Königreich auf, ähnlich wie Siebenbürgen, das mit ostungarischen Gebieten vom Königreich Großrumänien einverleibt wurde.

Das neugeborene Polen nahm das österreichisch verwaltete Galizien wieder in sich auf und entschied sich für die republikanische Staatsform. Im verkleinerten Österreich, das auf das selbstgewählte Prädikat „Deutsch“ verzichten mußte, und in der aus Böhmen-Mähren und der Slowakei (diese war bis dahin ein integrierter Bestandteil des historischen Ungarn) hervorgegangenen Tschechoslowakei rief man die Republik aus.

Letztere soll nach ungeteilter Meinung von Zeitgenossen und Historikern ein Hort der Demokratie in der Zwischenkriegszeit gewesen sein.

Vier Jahre Gemetzel an den Fronten, Hunger und Not im Hinterland haben die Völker eines Besseren belehrt. Das Ziel, für das sie sich im Sommer 1914 begeistert eingesetzt hatten, hatte jeden Sinn verloren. Und in der Phase der Sinnlosigkeit suchten sie nach neuen Zielen und Idealen.

Aus der Abstraktion „Für Gott, Kaiser und Vaterland!“ wollten sie etwas Konkretes herausholen. So wurde aus einer revolutionären Verstimmung im Geiste der Selbstbestimmung die Demokratie geboren.

Wäre es zum zweiten Weltbrand, der Länder und Völker durchgerüttelt hat, nicht gekommen, würden sich die Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie heute im seligen Gefühl der nationalen Selbstverwirklichung wiegen, ohne weiterhin größere Rücksichten aufeinander zu nehmen.

Denn spätestens in den Oktobertagen 1918 ließen sie alle Hemmungen fallen, und die jungen Staaten stürzten sich ins Abenteuer zweiter Stufe, das Grillpar-zer seinerzeit als den Weg der neueren Entwicklung erkannt hatte. Nun wurde es unvermeidlich, die Höllenfahrt der dritten Stufe, den Weg von der Nationalität zur Bestialität durchzumachen.

Franz Palatzky war doch ein Prophet: Die kleinen Völker der Nachfolgestaaten mußten zwangsläufig den großen Nachbarn zum Opfer fallen. Uber ihre Köpfe hinweg wurde sodann der Kampf der Giganten, der lediglich verbrannte Erde hinterließ, ausgetragen.

Die früheren Rivalitäten und Eifersüchteleien erwiesen sich nun als kleinlich und lächerlich. Es sollte zu einem Neubeginn mit Selbstbesinnung kommen. Der Große Bruder als Befreier ließ aber nicht zu, daß diese Völker zueinander finden konnten.

Wie vorher Hitler, spielte jetzt Stalin in Gesellschaft mit den Alliierten durch einander widersprechende Gebietsansprüche die einzelnen Völker gegeneinander aus. Bezeichnenderweise haben sich selbst die ungarischen Kommunisten in ihrem Wahlprogramm 1945 einhellig für die Schaffung einer vom Revolutionsführer Lajos Kossuth propagierten Donaukonföderation ausgesprochen.

Die Sowjetunion sorgte aber dafür, daß jeweils nur bilaterale Verträge unterzeichnet wurden. Und als das Interesse für ein weiteres Näherrücken konkrete Formen annehmen sollte (Jugoslawien — Bulgarien—Rumänien—Ungarn), kam 1948 die Gleichschaltung. Die Verträge, voran mit Jugoslawien, mußten annulliert und durch neue ersetzt werden.

Der Vorschlag Churchills, Ungarn mit Österreich und Bayern nach dem Krieg zu einem Staatenbund zusammenzuschließen, stieß bei Molotow und Stalin schon in der Moskauer Besprechung (12. August 1942) auf Ablehnung.

Die Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg mußte die kritischen Köpfe nachdenklich stim-

,.Zwischenkriegszeit verschwendet, um es dem Nachbarn heimzuzahlen“ men. Auch in den Gemütern breitet sich in den letzten Jahren in einer wachsenden Krisensituation unaufhaltsam die zunehmende Bereitschaft zur Öffnung nach außen aus. In dieser Zwangslage auf der Suche nach den Gründen und Ursachen erkennt man zusehends die Phantomschmerzen, die von einer voreiligen Amputierung herrühren.

Es werden immer mehr Stimmen laut, die offen aussprechen, woran es den Völkern dieses Rau-' mes mangelt: die oft verzerrte, ja verleugnete gemeinsame Geschichte (FURCHE 45/1988).

Die erzwungene Amnesie führte zum Mann ohne Eigenschaften, der sich nicht traut, eigene Gesinnung zu haben, und meint, diese immer vom Mund der Mächtigen ablesen zu müssen.

Eine für die zwanziger Jahre charakteristische Meinung vertrat der Historiker Viktor Bibl, indem er die These aufstellte, der Zerfall Österreichs hätte schon in der Geburtsstunde der Habsburgermonarchie, nach der Schlacht bei Mohäcs (1526), begonnen. Eine zweifellos sophistische, umgekehrte Prognose.

Seine These begründete er damit, daß die Vereinigung so vieler heterogener Kräfte die Einheitlichkeit der (deutschen) Erbländer von vornherein gefährdete. Nur hatten die Habsburger im 16. Jahrhundert aus verschiedenen vakanten Thronen doch ein Reich zusammengekittet, das im 17. und 18. Jahrhundert immerhin eine mitunter auch glorreiche Zeit erlebte.

Sicherlich kamen die Völker des Reiches dabei nicht gleichmäßig zum Zug, denn spätestens nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) konnten sich die Tschechen mit diesem Staatsgebilde nicht mehr identifizieren. Die Ungarn fühlten sich zu schwach, um die Türken loszuwerden, und die Hilfe aus dem Reich beziehungsweise den Erbländern hatte ihren Preis, den sie für viel zu hoch hielten und sich deshalb immer wieder auflehnten, bis im Frieden von Szatmär (1711) der große Kompromiß, der bis 1848 währen sollte, zustande kam.

Das Revolutionsjahr 1848 und der darauf folgende Unabhängigkeitskrieg in Ungarn hinterließen tiefe Furchen. Die Hinrichtung des schuldlosen Ministerpräsidenten Lajos Bat-thyäny und von 13Generälen der Honvedarmee vergrämte die Ungarn, während die Dynastie mit deren Demütigung die Einheit der Monarchie zu retten glaubte.

Solf erino (1859) und Königgrätz (1866) mußten folgen, bis die Erkenntnis heranreifen konnte: Ohne einander geht es doch nicht. Der österreichisch-ungarische Ausgleich (1867) war bestimmt ein ehrlicher Versuch der Versöhnung, nur wurde er nicht konsequent und allgemein durchgeführt.

Die Tschechen konnten aus der Niederlage am Weißen Berge im Rahmen der Monarchie auch schon deshalb nicht zu sich finden, weil die Hand der Versöhnung ihnen nicht .gereicht wurde. Somit war der Ausgang des Ersten Weltkrieges für sie die große Chance, ihre nationalen Vorstellungen zu verwirklichen.

Ein großer Fehler der gemeinsamen Geschichte lag in der vermeintlichen Beglückung aus Gottes Gnaden. Daraus resultierte eine Überheblichkeit, für die man bitter büßen mußte.

Benachteiligungen materieller Art lassen sich durch eine vernünftige Politik kompensieren, das Auskurieren seelischer Verletzungen gestaltet sich schwierig und langwierig. Dazu haben aber die Völker der ehemaligen Monarchie keine Zeit gehabt, denn die Jahre der Zwischenkriegszeit verschwendeten sie damit, den Nachbarn heimzuzahlen, was sie von ihnen früher erdulden mußten.

Wenn auch zur Verarbeitung der Geschichte der Monarchie seitens der Historiker einiges geleistet wurde, müssen zuallererst die Fehl- und Vorurteile aus der Geschichtsschreibung getilgt werden. Die Völker brauchen einen völligen Neubeginn, der ohne Geschichte allerdings unmöglich wäre.

Die Trümmer der verletzten Eitelkeiten müssen endlich weggeschafft werden. Unter dem Schutt liegen jene Kräfte verborgen, die uns allen auf die Beine helfen könnten.

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