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Philosoph im Schußfeld

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Im Jahre 1936 erschoß der Student Nelböck seinen Professor. Der Mord führte zu heftigen Angriffen ultrakonservativer Kreise gegen laquo;Moritz Schlick. Die zeitliche Distanz erlaubt einen nüchternen Rückblick auf sein Werk

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Im Jahre 1936 erschoß der Student Nelböck seinen Professor. Der Mord führte zu heftigen Angriffen ultrakonservativer Kreise gegen laquo;Moritz Schlick. Die zeitliche Distanz erlaubt einen nüchternen Rückblick auf sein Werk

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Am 22. Juni 1936 wurde Moritz Schlick, Professor für Philosophie an der Universität Wien, auf der sogenannten Philosophenstiege in der Wiener Universität von einem ehemaligen Schüler erschossen. Der Mörder Schlicks, Johann Nelböck, gab schwerwiegende philosophischweltanschauliche und persönliche Differenzen als Motiv an, wurde als bereits für kürzere Zeit in einer geschlossenen Anstalt internierter Psychopath zunächst zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, vom nationalsozialistischen Regime später pardoniert.

Mit dem Tod des 1882 geborenen Schlick zerfiel letztlich eine philosophisch-wissenschaftliche Bewegung, die als „Wiener Kreis quot; in delr Zwischenkriegszeit großes Aufsehen erregt hatte, im angelsächsischen Bereich weiter wachsenden Einfluß gewonnen hatte, ja sogar als führende Richtung erschien, um vor allem in den letzten Jahren in Mitteleuropa und auch in Österreich wiederum eine Renaissance zu erleben, nicht zuletzt auf Grund der engen Verbindungen zu sprachanalytisch, logisch-mathematisch ausgerichteten philosophischen Bestrebungen, für die der Name eines Österreichers, Ludwig Wittgenstein, als stellvertretend gelten kann.

Die Geschichte des „Wiener Kreises", dessen sachliche Bezeichnung — teilweise von seinen Vertretern selbst gewählt - „logischer Positivismus quot; oder „logischer Empirismus" bereits anzeigt, worum es methodisch dieser ganzen Bewegung zu tun war, ist reich an Diffamierungen, aber auch an Lobpreisungen, die beide mit emotionellen, weltanschaulichen und auch politischen Motiven verknüpft sind. Hatte man zunächst nicht zuletzt von katholisch-konservativer, später auch nationalsozialistischer Seite diese Bewegung verdammt, neigen nicht wenige Geschichtsschreiber der Gegenwart heute dazu, dem „Wiener Kreis" eine Märtyrerrolle aus durchaus ebenso festgelegter weltanschaulicher Position zuzuerkennen.

Der „Wiener Kreis" hat ohne Zweifel seinen bedeutsamen Platz innerhalb der durchaus zerklüfteten philosophischen Landschaft der Gegenwart. Daß die allgemeinen politischen Umstände, die seine Entstehung ebenso begünstigten, wie sie seine spätere Diaspora, vornehmlich in die Vereinigten Staaten, verursachten, diese an sich streng auf „wissenschaftliche Richtung" eingeschworene Grundhaltung zu einer weltanschaulichen und zeitweise politischen Frage hochstilisierten, lag sowohl am missionarisehen Eifer, nicht zuletzt auch an der divergierenden und keineswegs einheitlichen Haltung seiner Mitglieder.

Moritz Schlick, der eigentliche Initiator und gleichsam das Haupt dieser Bewegung, war freilich viel zu konziliant, um nicht zu sagen; bürgerlich-liberal orientiert, um diese kämpferische Haltung voll und ganz mitzuvollzie-hen. Hält man sich etwa an die programmatische Grundsatzerklärung, die von Otto Neurath, Rudolf Carnap und dem Physiker Otto Hahn, — um Moritz Schlick zu ehren - 1929 unter dem Titel „Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung" herausgegeben wurde, so zeigt sich neben der scharfen und polemischen Ablehnung jedweder Metaphysik ein grundsätzlich am Erkenntnisideal der Naturwissenschaften orientierter Begriff der Wissenschaftlichkeit als alleingültig in der Philosophie.

Gerade heute ist diese Orientierung, wie sogar zeitweise enger mit dem „Wiener Kreis" verbundene Denker, wie etwa Sir Karl Popper, betonen, aber selbst wieder äußerst fragwürdig und problematisch geworden.

Moritz Schlicks Bedeutung erschöpft sich freilich nicht in seiner Rolle als Kristallisationspunkt der genannten Bewegung Der aus Berlin stammende Nachfahre von Ernst Moritz Arndt ist neben seinen erkenntnistheoretischen Arbeiten, die weitgehend von empiristischen und begriffsanalytischen Gesichtspunkten getragen sind, auch durch seine Konzeption auf dem Gebiet der Ethik hervorgetreten.

Schlick hat in seiner Erkenntnistheorie, in gewisser Parallele zu Wittgenstein, den Schritt zur Reduktion der Philosophie auf Begriffsklärung vollzogen und mit dem Zusammenfallen von Sinn- und Wahrheitskriterium gleichsam den Grundstein zu neopositivistischen Dogmen gelegt.

Der promovierte Physiker und Schüler Max Plancks hat in seiner Ethik, die von metaphysischen Prinzipien gereinigt werden sollte, einen auf Lustempfindung gegründeten Utilitarismus vertreten, der sich stark an eine impressionistische Psychologie anlehnt. Sein Jugendwerk „Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre" richtet sich auf ein Ideal der Jugendlichkeit, das für ihn sogar mit dem Sinn des Lebens zusammenfällt, und in dem das Spiel einen wichtigen Platz einnimmt. Daß Schlick dann von einem psychopathischen Jugendlichen ermordet wurde, setzt gegenüber diesem Ansatz einen besonders tragischen Akzent.

Die scharfe Frontstellung, die die vom „Wiener Kreis" inspirierten Strömungen gegenüber der Metaphysik oder der Theologie bezogen hatte, ist inzwischen auch von den Verfechtern einer rational-wissenschaftlichen Philosophie weitgehend gemildert worden. Schlick hätte, bei allem Betonen und Insistieren auf szien-tistischer Rationalität, diese Entwicklung wahrscheinlich nur begrüßt, auch aus jener persönlichen Einstellung heraus, die es ihm ermöglichte, Wittgensteins metaphysisches Grübeln ebenso zu schätzen, wie Carnaps scharfe Verurteilung aller Metaphysik und spekulativen Philosophie. Beide Lager haben heute begonnen, einander zu tolerieren, wenn auch kaum zu spüren ist, daß sie miteinander in ein Gespräch treten.

Ob die Götterdämmerung der einseitig wissenschaftlichen Denkweise, die sich in den letzten Jahren abzuzeichnen beginnt, zu einer Renaissance der Metaphysik führen wird, läßt sich aber bezweifeln. Es bleibt das Vorrecht großer Geister, in ihrem Denken radikal, entschieden und unerbittlich zu sein, auch auf die Gefahr der Einseitigkeit hin. Freilich gilt aber auch ein aphoristisches Wort von Schlick: „Ein Denker, der nur Philosoph ist, kann kein großer Philosoph sein."

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien

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