6840369-1975_40_07.jpg
Digital In Arbeit

Pinochets „Freiheitsflamme“

Werbung
Werbung
Werbung

Es gehört zu den Methoden der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen, die Werbekraft traditioneller Begriffe dadurch zu beseitigen, daß man die Schlagworte in umgekehrtem Sinn annektiert. Das beste Beispiel hiefür bietet die „Volks-Demokratie“, in der die nach westlichem Konzept entscheidenden Faktoren der Willensbildung des Volkes zur Farce geworden sind.

Diese Technik gehört aber auch zur Taktik der lateinamerikanischen Diktaturen. Als General Alfredo Stroessner, der zur Zeit die größte Erfahrung auf diesem Gebiet in Lateinamerika hat, eine machtlose Oppositionspartei und eine ihm nicht ganz ergebene Zeitung zuließ, erklärte er, daß Paraguay die vollkommenste Demokratie der Welt besitze. Man spricht um so lauter von ihr, je weniger man sie verwirklicht. Trotzdem dürfte der neue chilenische Präsident, General Pinochet, auch auf diesem Gebiete einige Rekorde geschlagen haben.

Zum zweiten Jahrestag seiner Revolution wurde außer einem gewaltigen Schüleraufmarsch eine „gigantische Demonstration“ organisiert, in deren Verlauf die „ewige Flamme der Freiheit“ in Santiago auf dem „Bulnes“-Platz und am Tage vorher in Valparaiso auf dem Platz „Once de Setiembre“ entzündet wurde. .Vier Vertreter des chilenischen Volkes — eine Frau, ein Bauer, ein Arbeiter und ein Student — hißten die chilenische Fahne auf einem weithin sichtbaren Sockel, der die Inschrift trägt: „Ehre öder ruhmvoller Tod.“ Bei diesen Festlichkeiten hielt Pinochet eine lange Rede, in der er sagte: „Die Welt erlebt heute eine allgemeine Krise der traditionellen Formen der Demokratie, deren Fehlschlag, zumindest was Chile anlangt, als endgültig zu betrachten ist. Diese Situation begünstigt das Aufsteigen totalitärer Regimes, die einander ideologisch entgegengesetzt sind, aber in der Mißachtung der geistigen Werte der menschlichen Person übereinstimmen. Wer, -wie wir, glaubt, daß das Konzept der Demokratie in seiner Essenz einen Sinn von Würde und menschlicher Freiheit einschließt, muß entschlossen zur Schaffung einer neuen

Demokratie: über eine neue Verfassungsmäßigkeit fortschreiten.“ Wenige Tage .später verkündete Pinochet: „Amerika lehnt Gewalt und Totalitarisnius ab.“ Gleichzeitig bestritt er die Existenz von Konzentrationslagern, die er als „Haftlager“ bezeichnete, ebenso die Anwendung der Folter, und erklärte, daß es auch keine Standgerichte, wie • sie unmittelbar nach der Revolution bestanden hatten, mehr gebe. Er begründete seine Weigerung, die „UN-Kommission der Menschenrechte“ ins Land zu lassen, damit, daß er die Erfahrung gemacht habe, in solchen Fällen immer nur Beobachtern mit vorgefaßter Meinung zu begegnen. Er sprach von einer weltweiten Verleumdungskampagne gegen Chile.

Nun sagte der emigrierte frühere chilenische Außenminister Clodo-miro Almeida kürzlich in New York, daß sich die Unterstützung des Regimes auf monopolkapitalistische Kreise beschränke. Der ebenfalls emigrierte Kommunistenführer Wladimir Chavez antwortete auf eine Pinochet-Rede kürzlich, es könne keine Einheit in einem Lande geben, in dem es keine Familie gebe, in der nicht ein Freund oder ein Verwandter verhaftet, gefoltert oder ausgewiesen sei. Nun stammt diese Darstellung von einem Mann, der in kommunistischen Kreisen gelebt hat, die in skandalöser Form verfolgt wurden. Auch entspricht. Almeidas Aussage der Lesart der Allende-Regierung, die * zu Unrecht behauptet hatte, die Mehrheit des chilenischen Volkes stehe auf ihrer

Seite. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Volksmassen, die zum Bulnes-Platz strömten, waren alles andere als Monopolkapitalisten. So grotesk es dem Beobachter erscheinen mag — die Massen brüllten im Chor: „Chile ist und bleibt ein Land in Freiheit.“ Am meisten wurde dabei ein neues Lied gesungen, dessen Titel „Libre“ („Frei“) lautet. Trotz einer Inflation von 423 Prozent und einer Senkung des Reallohns unter die Hälfte nach der Revolution, jubelte man Pinochet zu, der dem Volke sagte, daß die von den Kommunisten verschuldete Talsohle bald überwunden sein werde. Die Beobachter hatten nicht den

Eindruck, daß dieser Enthusiasmus manipuliert war. Vielmehr zeigt sich in Chile ein Phänomen, das man im größten und tragischesten Ausmaß 1932 in Deutschland beobachten konnte. Ein großer Teil gerade der politisch wenig geschulten Masse, aber auch Überläufer von der Linken, verfallen neuen — oder allen — Phrasen.

In fast allen lateinamerikanischen Ländern südlich des Äquators, die offen oder verschleiert von Militärs beherrscht werden, beobachtet man nicht nur, daß jeglicher Widerstand 'fehlt, sondern ''auch eine weitgehende Identifizierung der Oberschicht, des Mittelstandes, aber auch eines großen Teils der; Masse mit dem neuen Regime. Diese Situation ist nicht neu. Vargas und' Perön haben als Militärdiktatoren begonnen und als Volkshelden geendet.

Im übrigen rächt sich die chilenische Presse in recht origineller Form an der schwedischen. . Unter der Überschrift: „Die merkwürdige Behandlung der Menschenrechte in Schweden“ bringt die führende Santiagoer Zeitung „El Mercürio“ den Artikel ihrer Sonderberichterstatterin Teresa Donoso Loero. In ihm liest man: „99 Prozent der Schweden sind Polizisten, die sich gegenseitig anklagen.“ Die Loero sieht in der Stockholmer U-Bahn über der mechanischen Treppe riesige Mikrophone und Televisions-apparate: „Man könnte denken, daß sie helfen sollen, Unfälle und Diebstähle zu vermeiden, aber jeder Schwede weiß, daß sein persönliches Leben bis in die intimsten Einzelheiten von Computern aufgenommen wird, die seine Schritte, dank der allgemeinen Spionage, durch die ganze Stadt verfolgen ... Die Verletzung des Briefgeheimnisses, auch gegenüber Diplomaten, ist allgemein üblich.“ Teresa Donoso Loero entlarvt den Mythos der schwedischen Pressefreiheit, indem sie „Subventionen der Regierung an Zeitungen aller Richtungen“ enthüllt und behauptet, daß die Nachrichtenagenturen ihre Berichte nur durch die von der Regierung kontrollierte „TT“ (nicht zu verwechseln mit „ITT“) ausliefern dürfen. Obwohl diese Form der Replik nicht ernstzunehmen ist, läßt sich kaum verkennen, daß das Pinochet-Regime die ausländische Gegenpropaganda geschickt dazu ausnutzt, die Solidarität des Volkes gegen die — wie es sagt, völlig unberechtigte — Kränkung der Nation zu wecken.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung