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,Piraten‘ greifen zur Selbsthilfe

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Kolumbien, so betonen die in freier Wahl gekürten Präsidenten gerne, sei das Paradepferd der Demokratie in Südamerika. Daß es dabei nicht unbedingt nach europäischen Vorstellungen zugeht, daß man dortige Zustände auch nicht mit unseren Maßstäben messen kann, dürfte jedermann klar sein. Nicht jedermann weiß hingegen, daß dort die gemeinsame Selbsthilfe der Bürger eine feste Basis hat. Sie könnte sogarfür Europa vorbildlich werden.

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Kolumbien, so betonen die in freier Wahl gekürten Präsidenten gerne, sei das Paradepferd der Demokratie in Südamerika. Daß es dabei nicht unbedingt nach europäischen Vorstellungen zugeht, daß man dortige Zustände auch nicht mit unseren Maßstäben messen kann, dürfte jedermann klar sein. Nicht jedermann weiß hingegen, daß dort die gemeinsame Selbsthilfe der Bürger eine feste Basis hat. Sie könnte sogarfür Europa vorbildlich werden.

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Bogota, die Hauptstadt Kolumbiens auf dem 2700-Meter-Andenplateau, wuchert. Jetzt sind es schon sechs Millionen Menschen, die in der Metropole entlang einer Nord-Süd-Achse leben. Der junge Norden mit seinen Villen kann es an Luxus mit jeder feinen Wohngegend in den USA aufnehmen.

In der Mitte blüht das internationale Bankenviertel mit seinen Wolkenkratzern, und daneben verlottert die koloniale Altstadt. Im Süden dehnen sich die Armenviertel (in die sich kein Bürger aus dem Norden je verirrt).

Bogota wuchert nicht nur, es ertrinkt auch regelmäßig im Regen. Während der Dezemberwolkenbrüche stehen die „Barrios“ (so werden die einzelnen Viertel genannt) im Süden unter Wasser. Sie liegen unter dem Niveau des Rio Bogota und haben keine Kanalisation. Immer wieder gibt es Tote, oft müssen Hunderttausende evakuiert werden.

Mit solchen Problemen befaßt sich ein interdisziplinärer Kurs über „Co- munity Development“ an der bogota- ner „Anden-Universität“. Elisabeth Unger, eine Sozialwissenschaftlerin, die an diesem Kurs mitarbeitet, antwortet auf die Frage, wer denn für die fehlende Kanalisation verantwortlich sei, trocken: „Niemand - das heißt vom Standpunkt des Gesetzes aus ist alles klar geregelt...“

Dann beginnt sie ihren kryptischen Satz zu erklären. In Kolumbien gibt es vier verschiedene Wohnungsmärkte:

• Der freie Markt, wie er im Norden Bogotas spielt, bietet tadellose Wohnungen auf erschlossenen Grundstük- ken. Die Preise sind allerdings astronomisch, weil der Finanzmarkt verzerrt ist: züviel schwarzes Geld aus dem Kokain- und Marihuanäschmuggel „flutet“ herein.

• Das Wohnbauprogramm der Regierung - gekennzeichnet durch eine enge Verquickung, ja oft Personalunion zwischen den zuständigen Politikern, den Grundstücksspekulanten und Baulöwen - ist ein kleiner Markt mit weniger luxuriösen und billigeren Wohnungen. Für die Anspruchsberechtigten sind sie noch immer zu teuer.

• Die „Invasion“, die Besetzung leerstehender Grundstücke, ist in Bogota selten (da haben allerdings nach dem großen Seebeben 1979 die obdachlosen Fischer der schwer betroffenen Küste eine halbfertige Siedlung besetzt).

In einer anderen Millionenstadt, Barranquilla, stehen Besetzungen allerdings an der Tagesordnung. Sie wird sogar von den Politikern gefördert: als beliebtes Mittel zum Stimmenfang vor Wahlen. Sind diese vorbei, kümmert sich kein Gewinner mehr um die gemachten Versprechen, die Polizei rückt zur Räumung ein.

• Die „Piratensiedlungen“ in den Städten sind die vierte Variante. Sie beherbergen den größten Teil der Zuzügler vom Land, die von den kleinen Bauernhöfen kommen und sich von der Stadt einen Lebensunterhalt erwarten. Um wie daheim ein eigenes Grundstück zu besitzen, kaufen sie billige Flecken am Stadtrand, die noch nicht erschlossen sind. Schuppen aus Pappkarton sind ein erstes eigenes Dach überm Kopf, später werden Wellblech- und schäbige Ziegelhäuser in Eigenregie errichtet.

In den „Piratensiedlungen“ von Bogota leben heute 55 Prozent der Bevölkerung. Diese Barrios breiten sich so rasch aus, daß die offiziellen Statistiken mit den Namen der neuen Barrios ebensowenig Schritt halten können wie mit der tatsächlichen Einwohnerzahl der Stadt.

„Patio Bonito“ oder „El Paraiso“ sollen als „gutes Paradies“ Käufer anlocken - mit dem vagen Versprechen, man werde die Kanalisation, Stromzuleitung und Wasser schon nachliefern. Diese Grundstücke sind billig und werden in kleinen Monatsraten abgezahlt.

Wenn die Käufer später wissen wollen, warum nach Monaten, Jahren die Infrastruktur noch immer nicht da ist, beißen sie auf Granit. Sie können den unwilligen Grundherrn nicht klagen, weil ihr Recht auf ein Stück eigener Erde noch nicht grundbücherlich verbrieft ist. .

Denn ins Grundbuch kommt man nur mit einem erschlossenen Grundstück, der Kauf eines unerschlossenen ist rechtswidrig. Manchmal springen dann die Stadtämter ein und sorgen für Kanal und Straßen - aber dann müssen das die Piratensiedler zahlen; in Monatsraten, die sie sich nicht mehr leisten können, und die Grundstücke fallen an die Stadt. ..

Aus diesem Teufelskreis herauszukommen, ist für die Siedler schier unmöglich. Da aber die Unfähigkeit der Behörden, in diesen Vierteln für Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser zu sorgen, offenkundig ist, begann die „action communal“ (übrigens ein von Staats wegen in ganz Kolumbien eingerichteter Körper, dessen Mitglieder meist nicht dem Gemeinderat angehören, sondern direkt gewählt werden) sich solcher Aufgaben anzünehmen.

In den Piratensiedlungen Bogotas entwickelten sich daraus eine Selbsthilfe und der Keim einer Selbstverwaltung, auf die jede Bürgerbewegung Europas stolz sein könnte.

Heute erklären in einigen der zahlreichen Barrios des Südens Informationsblätter, warum die Siedler im legisti- schen Dschungel „Piraten“ sind; erläutern, wohin man sich im Bürokratiegestrüpp mit Fragen, Forderungen, Klagen wenden muß; Fachleute, Installateure, Architekten, Ärzte, Juristen, Lehrer, Baumeister, Handwerker arbeiten mit den Siedlern kostenlos an der Verbesserung der lausigen Infrastruktur.

Straßen werden gebaut, nachdem Kanäle in Eigenregie angelegt worden sind; kleine medizinische Zentren werden errichtet; der teure Hausbau auf Raten wird billiger gemacht, indem gemeinsam Baumaterial in großen Mengen gekauft wird.

Das Echo auf diese Initiative, an der auch die Studenten und Lehrer des Kurses für „Comunity Developement“ beteiligt sind, ist in den Barrios überwältigend. Das politische Bewußtsein, geschärft durch Jahrzehnte der Enttäuschung mit den politischen Vertretern, ist weit höher als in Europa.

Gelingt es der jungen Bewegung, die traditionell nicht wählenden Armen der Barrios zu aktivieren und eine eigene Plattform mit eigenen Kandidaten zu gründen, so könnte ein neuer Machtfaktor in den Wahlen mitspielen. Denn die Piratensiedlungen stellen in Bogota die Hälfte der Wahlberechtigten - so- ferne sie zu einer Wahl gehen.

Der erste Test fand in den Kommunalwahlen zur Zeit der Geiselaffäre 1980 statt. Obwohl die Aussichten rosig waren (400.000 Unterschriften gab es für FIRMES), bekam die neue Liste wenigStimmen - die Angst vor den Repressionen des Militärs, das mit einem Eingreifen in der besetzten Botschaft drohte,, war zu groß, nur knapp über 61.000 Wähler gaben FIRMES ihre Stimme.

Der nächste Test wird die Präsidentschaftswahl 1982 sein. Man will ein Programm und eine Liste erarbeiten, die von der Bezirksebene bis hinauf zur Landesebene gemeinsam durchdiskutiert und beschlossen werden soll, auf jeder Ebene mit direkter Wahl und Abstimmung.

Ob dieser neue und friedliche Weg der Basisdemokratie für die bisher politisch Machtlosen beschritten werden kann, ist ungewiß.

Dieser Tage wurde der Präsidentenpalast in Bogotas Altstadt (mit seinen in schmucken Uniformen paradierenden Wachen) aus Mörsern beschossen. Wenn die Folge ein Engerschnüren des militärischen Korsetts ist, werden sich die Militärgefängnisse wieder füllen, undjede-auch die legale- Formierung einer Opposition wird im Keine erstickt werden.

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