6861983-1977_40_19.jpg
Digital In Arbeit

Plädoyer für wirkliche Leser

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Presse für den Menschen. Ja, bitte, für wen denn sonst? Kongreßthemen haben so ihre Tücken. Und. das Thema des 11. Katholischen Weltkongresses der Presse, der vom 10. bis 14. Oktober 19 77 in Wien stattfindet, hat es in sich. Genauer hätte es ja heißen müssen: „Eine Presse für den Leser.“ Denn wer nicht lesen kann, hat, im Unterschied zur Situation vor dem Bildschirm, nichts von Zeitung oder Zeitschrift. Ich riskiere die Behauptung (meine zum Sozialismus neigenden Kollegen werden mich jetzt steinigen): Noch nie wurde Presse so sehr für den Leser produziert wie heute. Trotzdem hat das Motto der UCIP (Union Catholique Internationale de la Presse) seine Berechtigung. Es steckt ja eine Forderung in ihm. Und der Verdacht, daß die Forderung in Wirklichkeit nicht erfüllt werde. Sie haben recht, die da Verdacht hegen, und sie haben nicht recht. Die Presse, die da heute ,für den Menschen" produziert wird, ist auch eine Presse für den Menschen „Verleger“ und, schauen wir über die Grenze, eine Presse für den Menschen, der die politische Propaganda und Agitation sozialistischer Systeme leitet. Beide aber, der Agit- prop-Chefwie der (notwendig kapitalistisch orientierte) Verleger, sind überaus interessiert daran, daß die Presse, die sie zu verantworten haben, für denLeser gemachtwird, bes ser als je zuvor auf den Leser zugeschnitten wird. Denn nur dann wird auch ihren eigenen’ Zwecken gedient.

Kein Mißverstehen bitte: Keineswegs möchte ich Funktionär und freien Verleger auf eine Stufe stellen. Tag für Tag ziehe ich, und zwar nicht nur um des Vergnügens willen, sondern auch aus politischer Moral und, wenn das einem Ex- Joumalisten und heutigem Wissenschaftler überhaupt gestattet ist: aus journalistischem Genuß den „Kurier“ wie die „Neue Kronen-Zei- tung“ der ,Pravda“ und dem „Neuen Deutschland“ vor. Aber sie alle orientieren sich heute viel mehr als früher am Leser. Aus einer der jüngsten Untersuchungen am Institut für Publizistik der Universität Salzburg geht hervor, daß die DDR-Presse in ihrer Olympia-Berichterstattung Innsbruck 1976 weiter über ihren Schatten gesprungen ist, als ihre Schispringer über die Traumgrenzen von Innauer und Co: Breite und relativ neutrale Berichterstattung, umfangreiche internationale Tabellen, weniger Gefühl als in Österreichs Blättern, viel Papier in einem Land mit Zeitungspapierkontingentierung - all das im Dienst des Lesers.

T Tnd schau ich mich im Westen U um (und ein wenig auch in der Geschichte): Die Zeitungen im 19. Jahrhundert, die berühmtesten voran, setzten fast immer, wenn man sie goutieren wollte, Universitätsbildung voraus. Auch als man sie billig machte, die Abonnementspreise halbierte (zuerst in New York, dann in Paris - und noch vor London und Berlin - in Wien), blieben sie, vielleicht die USA ausgenommen, Blätter für Gebildete. Heute, das kann niemand bestreiten, sind sie zugänglich für jedermann, und jedermann greift nach ihnen. Ein meines Erachtens viel zu wenig beachtetes Problem bei allen publizistischen Demokratisierungsbestrebungen, auch ein Problem im Motto des UCIP-Weltkon- gresses, sind die Leser: Denn die Leser, wurde Brecht sagen, die sind nicht so.

Es ist kein Zufall, daß unsere Presseprodukte, besonders jene, die sich gut verkaufen lassen, so sind, wie sie sind. Wie viel (freilich vordergründig zweckinteressiertes) Forschungsgeld, wieviel

Methodengetüftel und wieviel Interviewerschweiß stecken doch in der Auslotung des publizistischen Marktes! Kaum ein erfolgreiches (westliches) Presseprodukt wird heute noch so gemacht, wie die

Journalisten glauben, es machen zu sollen: Marketing-Strategen zeichnen die Perspektiven erfolgreicher Entwicklung, immer den Doppelmarkt im Auge: hie auflagesteigernder Leser, dort gewinnbringender (und insofern auch indirekt joumalistisch-leistungsfördemder) Anzeigengeber. Und dann kommen die Herren (neuerdings auch Damen) Kulturkritiker und -Pessimisten und jammern über Kronen-, Bild- und Blickzeitungen, deren Le- serschaften übrigens zu hohen Prozentsätzen ebenso hochgebildet sind wie die Kulturkritiker.

Es ist also Jur die wirklichen Leser zu plädieren. Sie wollen nicht jeden Tag belehrt werden. Warum sollten sie auch? Wie die Wahlen in demokratischen Staaten und wie neuerdings der Aderlaß der kreativen Intelligenz inlaus sozialistischen Staaten zeigen, sind die Menschen in der Rolle „Leser“ bzw. „Hörer/ Zuschauer“ doch keineswegs so blöd, wie sie nach Meinung der Kulturpessimisten sein müßten. Das kurzminütige Vergnügen der Boulevardzeitungslektüre ist mit den Kategorien von Tausch- und Gebrauchswert analysierbar, aber eben nur in Seminararbeiten und Dissertationen. Der Gebrauchswert eines Boulevardblattes mag so fatal sein wieder einer Zigarette - aber ich frage mich immer wieder: Warum hat wohl einer der ersten Zeitungstheoretiker sein 1695 veröffentlichtes Buch ausgerechnet „Zei- tungs Lust undNutz“ genannt? Je mehr Nutz, desto weniger wird man auf die Zeitungen verzichten können. ( Und Nutz kann durchaus heißen: mehr Bildung, mehr Demokratisierung, mehr Ombudsmann- Recht für die Bürokratiegeschädigten!) Aber je mehr Lust, um so später werden die Menschen die Zeitung aus der Hand legen, die für viele von ihnen nachweislich die einzige tägliche Lektüre ist.

Zum Schluß also eine Frage an die vielen katholischen Journalisten, die sich da in Wien versammeln und dann fortgehen werden, entschlossen, eine „Presse für den Menschen“ zu machen: So viel Nutz wie möglich, aber vielleicht in Zukunft auch ein bißchen mehr „Lust“ für alle, die eure Zeitungen kaufen, und besonders für jene vielen, die da zögern, sie zu kaufen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung