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Pluralismus am Ende?

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Erinnern wir uns zurück: Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren von einem gigantischen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet. Es hatte unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Im materiellen Fortschritt suchten wir das Heil.

Es war das Zeitalter des Pragmatikers. Die Welt war einfach: Was der Wirtschaft gut tat, war an sich gut. Was brauchte man sich noch den Kopf über den Sinn des menschlichen Lebens zerbrechen?

Die Wirtschaft wurde gewissermaßen zum Bindeglied einer ansonsten auseinanderstrebenden Gesellschaft. Denn gleichzeitig mit der Gleichsetzung von materiellem Fortschritt mit Lebensglück erfolgte eine umfassende Entlassung des Menschen aus gesellschaftlich normierten Wertvorstellungen.

Es kam zu einer Privatisierung der Moralvorstellungen in jenen Bereichen, die das Zusammenleben der Menschen betreffen, vor allem das von Mann und Frau.

Ich hatte mehrfach Gelegenheit, mit jungen Leuten im Rahmen von Seminaren zum Thema Partnerschaft über voreheliche Sexualität zu sprechen. Dabei wurde mir klar, daß sich in den letzten 15 Jahren die Einstellungen total verändert haben: Heute ist Freizügigkeit eine Selbstverständlichkeit.

Kürzlich wollte mich meine Tochter zu einem Kinobesuch animieren. Ich gab ihr das Kinoprogramm zur Auswahl. Nachher habe ich mich für die Filmtitel geschämt, die sie da zu lesen bekam! Oder: Wie entwürdigend ist doch das Bild der Frau, das uns von Illustrierten und Magazinen täglich in den Trafiken entgegentritt! Hier ist der Konsens bezüglich Recht und Unrecht restlos verlorengegangen.

Daß Ehestörung und Homosexualität ebenfalls keiner einheitlichen gesellschaftlichen Bewertung unterliegen, rundet das Bild ab. Und es ist nur folgerichtig, daß sich der Staat mit der Reform des Scheidungsrechts auch bezüglich der Ehe gewissermaßen in eine Neutralitätsposition zurückgezogen hat.

Die Philosophie, die hinter alldem

steht, reduziert sich weitgehend darauf, dem einzelnen zu sagen: „Richte Dir Dein Leben ein, wie es Dir paßt. Was Du tust, geht schließlich niemanden etwas an.“

Diese Entwicklung hat zur Folge, daß wir heute als Gesellschaft außer stände sind, gemeinsame Leitvorstellungen zu artikulieren. Soll map in den Schulbüchern als Leitbild für die Frau den mütterlichen Menschen oder den sein Leben in beruflicher Tätigkeit erfüllenden darstellen? Gilt als Grundlage der Beziehungen zwischen den Menschen das emanzipatorische oder das familienbezogene Leitbild?

Begriffe des Rechtes, die früher integrierender Bestandteil von Normen waren, wie sittlich oder guter Familienvater, sind heute inhaltsleer geworden.

Ja, wir haben es sogar geschafft, einen Grundwert wie den Begriff Leben seiner scharfen Konturen zu berauben. Wir haben nicht einmal mehr Konsens

darüber, wann das Leben beginnt! In den ersten drei Lebensmonaten hat das Kind im Mutterleib zwar ein Erbrecht, aber keinen Rechtsschutz für sein Leben!

Können wir wirklich ernsthaft glauben, als Gesellschaft langfristig überleben zu können, wenn wir solche grundlegende Fragen der Beliebigkeit der individuellen Meinungsbildung überlassen?

Machen wir uns doch nichts vor. Wir beobachten doch, daß die „Ich-bin- ich“-Mentalität ja in alle Bereiche hineinwuchert, auch in die gesetzlich geregelten.

Denken wir doch an die Nonchalance mit der sich viele über die Regeln des Straßenverkehrs hinwegsetzen und damit Leben gefährden. Oder die Einstellung zum Steuerzahlen. Wer hat schon den Eindruck, einen Beitrag zu einem gemeinsamen Anliegen zu leisten. Fühlt sich nicht jeder im Recht, wenn er

den „Finanzminister“ überlistet. Man ist ja schließlich nicht blöd …

Oder die Ladendiebstähle. Wieviele honorige Leute werden dabei ertappt! („Schließlich schlägt man ja in den Kaufhäusern wegen der Diebstähle etwas auf den Preis auf; da ist es ja fast normal, wenn man sich schadlos hält.“)

Und genau das ist aber tödlich für unser Zusammenleben. Denn auf diese Weise geht jedes Vertrauen in den Mitmenschen verloren. Auf wen sollte man sich verlassen, wenn jeder nur auf seine Interessen aus ist und die Gesetze um seines Vorteils willen unterläuft?

Ein so extrem arbeitsteiliges System wie unsere Gesellschaft muß aber zusammenbrechen, wenn sie nicht durch das Band gegenseitigen Grundvertrauens zusammengehalten wird. Da helfen keine noch so ausgeklügelten Kontrollsysteme!

Heute stehen wir aber gerade in einer besorgniserregenden Vertrauenskrise, weil jeder seiner Privatmoral anhängt.

Wer hat schon nach den vielen Skandalen Vertrauen in die Politiker? Sie scheinen ihren „privaten“ Verantwortungsbegriff entwickelt zu haben. Sie treten nur dann zurück, wenn man ihnen den Diebstahl der sprichwörtlichen silbernen Löffel nachweisen kann.

Oder wer vertraut nach der ganzen Zwentendorfdebatte noch den Aussagen von Wissenschaftern? Im Brustton der Überzeugung wurden total widersprüchliche Gutachten abgegeben.

Genau das aber können wir uns nicht mehr lange leisten. Ein Zusammenleben ohne Vertrauen ist nicht möglich. Dieses Vertrauen werden wir aber sicher nur dann wiederherstellen können, wenn wir uns folgendes klar thachen: da wir so sehr aufeinander angewiesen sind, brauchen wir auch einen Minimalkonsens über gut und böse, über erlaubt und unerlaubt.

Mir scheint, daß wir heute deutlich erkennen könnten, daß der Wertpluralismus die Gesellschaft ruiniert. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen und zu jenem Leitbild zurückzukehren, das an der Wiege unserer Kultur gestanden ist: der liebevolle Mensch, wie er uns in der Person Jesu Christi in den Evangelien vorgestellt wird.

Uns Christen müßte klar sein, daß das Hineintragen dieses Leitbildes in die Gesellschaft nicht ein Hobby für religiöse Fanatiker ist, sondern die große Hoffnung für unsere ratlose, auseinanderfallende Gesellschaft.

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