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Poesie & Rebellion

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Spiegelt die südamerikanische Literatur die stürmische Veränderung des Subkontinents? Neue Werke zeigen eine in Europa weitgehend unbemerkte Entwicklung.

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Spiegelt die südamerikanische Literatur die stürmische Veränderung des Subkontinents? Neue Werke zeigen eine in Europa weitgehend unbemerkte Entwicklung.

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Noch in den fünfziger Jahren beklagte sich Luis Alberto Sän-chez, Rektor der Universität San Marcos, Lima, Lateinamerika sei ein „Roman ohne Schriftsteller“. Zehn Jahre später setzte zunächst in Spanien, dann auch im übrigen Europa und in den USA die große Mode der lateinamerikanischen Literatur ein, die Gabriel Garcia Märquez, Carlos Fuentes, Julio Cortäzar und Mario Vargas Llosa in wenigen Jahren auch bei uns bekannt werden ließ. Barcelona wurde zum Mekka der lateinamerikanischen Autoren, die den Literaturpreis des Verlages „Seix Barrai“ und damit Weltgeltung anstrebten. Der Nobelpreis für Gabriel Garcia Märquez 1982 ist als Höhepunkt dieser Entwicklung zu sehen, die zu einer literarischen Neuentdeckung Ibero-amerikas durch Europa und die USA führte. Negative Aspekte dieses Booms waren die Hektik der Rezeption und die nahezu ausschließliche Konzentration auf die Gattung Roman.

Lateinamerikas Schriftsteller sehen sich häufig gezwungen, zu den drängenden Problemen ihrer Umwelt Stellung zu nehmen, verfügen doch auf ihrem Kontinent fünf Prozent der Einwohner über ein Drittel des Gesamteinkommens, wobei fünfundsechzig Millionen Menschen gezwungen sind, mit weniger als fünfzig Dollar jährlich zu überleben. Grausame Militärdiktaturen, zudem Bürgerkriege in El Salvador und Guatemala haben den,.Kontinent der Mestizen“ (Mario Benedetti) zu einem Pulverfaß gemacht, das jederzeit zu explodieren droht.

Das erste Problem, das sich der jungen Literatur Lateinamerikas stellte, war die eigene kulturelle Identität, die der kubanische Unabhängigkeitskämpfer Jose Marti (1853-1895) in die emblemati-schen Worte „Unser Amerika“ kleidete, das er dem durch angelsächsische Mentalität geprägten Nordamerika gegenüberstellte. Die Auseinandersetzung mit dem mächtigen Nachbarn im Norden, die indianische Vergangenheit mit den Hochkulturen der Azteken, Mayas und Inkas, das europäische und das afrikanische Erbe in der Karibik — all dies verdichtete sich in den Revolutionen Mexikos (1910) und Kubas (1959).

Der Aufstand von 1910 gegen den mexikanischen Diktator Por-f irio Diaz führte zur ersten literarischen Identitätsfindung im Revolutionsroman, für den hier „Die Rotte“ (1930) von Mariano Azuela und das Romanwerk des bedeutendsten mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes („Nichts als das Leben“) stehen mögen.

Im Gegensatz zur Prosa, deren soziales Engagement oft nicht mit einer entsprechenden ästhetischen Qualität einherging, verstand es die Lyrik Lateinamerikas, seit der Phase des sogenannten „Modernismus“ (etwa 1885-1910) eine eigene Sprache zu finden: das Spanische zu entkolonialisieren.

Am Anfang dieser Erneuerung steht der Nikaraguaner Rüben Dario (1867-1916), der Metrik und Dichtersprache neue Impulse verlieh und auf die folgenden Generationen einen bleibenden Einfluß ausüben sollte. Im weiteren wären hier zu nennen der kürzlich verstorbene Argentinier Jorge Luis Borges (zum Beispiel „Borges und ich“), der Peruaner Cesar Vallejo, der Chilene Pablo Neruda („Der große Gesang“) und der stark von afroamerikanischen Elementen geprägte Kubaner Nicolas Guillen. Seine „Gedichte“ sind 1969 deutsch erschienen.

Eigene Wege ging die brasüia-nische Lyrik, die von der 1922 in Säo Paulo organisierten „Woche der modernen Kunst“ starke Impulse empfing.

Die Erneuerung der lateinamerikanischen Prosa setzte in den vierziger Jahren ein, als Jorge Luis Borges seine ersten Erzählungen zu veröffentlichen begann (.Xabyrinthe“, „Geschichte der Ewigkeit“). Erst in den sechziger Jahren entstanden die Werke, mit denen heutzutage gemeinhin der lateinamerikanische Roman assoziiert wird: Alejo Carpentier schrieb „Das Reich von dieser Welt“, Julio Cortäzar „Himmel und Hölle“, Carlos Fuentes „Hautwechsel“ und Gabriel Garcia Märquez „Hundert Jahre Einsamkeit“ (deutsch 1970), den meistgelesenen lateinamerikanischen Roman überhaupt.

Die Blüte der lateinamerikanischen Prosaliteratur steht sicherlich in direktem Zusammenhang mit der kubanischen Revolution von 1959, die ungeheure Energien freisetzte und es dem Autor in Lateinamerika zum ersten Mal erlaubte, von der Literatur zu leben: Verleger, Publikum und Filmregisseure wie Michelangelo Anto-nioni („Blow up“) begannen, sich für diese Texte zu interessieren,Ubersetzungen häuften sich.

Das Bild, das die jungen Autoren von Geschichte und Wirklichkeit ihrer Länder entwarfen, erwies sich als wesentlich glaubhafter als die offizielle Geschichtsschreibung oder die leere Rhetorik der Politiker. Als Paradebeispiel werden hier häufig der Aufstand und das Massaker an den Bananenarbeitern von Santa Marta in Kolumbien (1928) zitiert, das Garcia Märquez in „Hundert Jahre Einsamkeit“ zu einer eindringlichen Episode verarbeitete. Bis heute werden die Ereignisse von 1928 in den Schulbüchern des Landes geleugnet.

In Brasilien entstand in den dreißiger Jahren — unabhängig von der Entwicklung im spanischsprechenden Lateinamerika - ein stark sozialkritischer Roman, der gemeinhin als der ,.Roman des Nordostens“ bezeichnet wird und die desolate Situation in der brasilianischen Hungerregion zum Thema hat. Jorge Amado, Graciliano Ramos, Ariano Suas-suna und Joäo Guimaräes Rosa („Grande Sertäo“) haben zu verschiedenen Zeitpunkten Aspekte dieser Thematik aufgegriffen. Daneben entwickelten sich andere Richtungen, so eine feministische bei Ciarice Lispector („Nahe dem wilden Herzen“) und eine phantastisch-surreale Lygia Fa-gundes Teiles („Die Struktur der Seifenblase“), Murilo Rubiäo („Der Feuerwerker Zacharias“) oder Moacyr Scüar („Der Zentaur im Garten“) sind Beispiele dafür.

Unter den neueren Tendenzen des lateinamerikanischen Romans darf eine nicht unerwähnt bleiben: die Rebellion gegen den „Caudillo“, den archetypischen Diktator, dies vor dem Hintergrund blutiger Militärdiktaturen, die selbst für lateinamerikanische Verhältnisse bis dahin unbekannte Ausmaße von Grausamkeit entfesselten. Zwei Romane sind hier zu nennen: „Der Herbst des Patriarchen“ von Gabriel Garcia Märquez und „Staatsräson“ von Alejo Carpentier.

Während der „Patriarch“ von Garcia Märquez ein ungehobelter Haudegen und Analphabet ist, der von der Gunst der Stunde und nordamerikanischen Interessen an die Spitze einer mittelameri-kanisqhen Republik katapultiert wird, ist Alejo Carpentiers „Erster Magistrat“ ein gebildeter Tyrann, der die französische Kultur des Fin-de-siecle liebt und die meiste Zeit in Paris verbringt. Der Untergang dieser Figur, die literarische Liquidation des Monsters sollen dem Kontinent das bringen, was er dringend nötig hat: die Befreiung von der Hypothek der Kolonialgeschichte und eine eigene kulturelle Identität.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Zentralbibliothek in Zürich.

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