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Polen: Suche nach Koexistenz

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Polens dramatische Zeitgeschichte seit Mitte der 70iger Jahre steht im Mittelpunkt von drei neuen Büchern. Ein Politiker, ein Historiker und eine deutsche Autorin analysieren die Entwicklung.

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Polens dramatische Zeitgeschichte seit Mitte der 70iger Jahre steht im Mittelpunkt von drei neuen Büchern. Ein Politiker, ein Historiker und eine deutsche Autorin analysieren die Entwicklung.

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Wo eine Partnerschaft, zumal eine durch mißliche Umstände erzwungene, nach wiederholten Versuchen gescheitert ist, da bleibt im privaten Leben nur Trennung, Scheidung. - Auch in der Politik?

Die polnische Nation, von ungeliebten Nachbarn umgeben und (auch deshalb) seit Jahrzehnten von einer unabwählbaren Partei regiert, hat dieser politischen Geographie weder entkommen noch haltbare Kompromisse mit ihr schließen können. Der jüngste, dramatische Versuch bleibt mit dem Begriff „Solidarnosc” verknüpft.

„Eine der großen Freiheitsbewegungen dieses Jahrhunderts” nennt sie Peter Bender im Vorwort zu dem Buch „Der schwierige Dialog”, das schon deshalb ungewöhnlich ist, weil es ein amtierender stellvertretender Ministerpräsident einer kommunistischen Regierung für einen westdeutschen Verlag geschrieben hat

- so als läge ihm daran, gerade vor einer solchen Öffentlichkeit, die nicht an Propagandaschablonen interessiert ist, um Verständnis für sich und sein Land zu werben: nämlich Mieczyslaw F. Rakowski.

In der problematischen Doppelrolle des handelnden Politikers, der bis heute einer der engsten Mitarbeiter des General Jaruzelski ist, und des Zeitzeugen, der sein journalistisches Mitteilungsbedürfnis nicht verleugnen kann, legt Rakowski eine Art Tagebuch vor. Natürlich ein unvollständiges, doch ein immerhin so sehr um Ehrlichkeit bemühtes, daß die Selbstzensur, der er als Amtsund Geheimnisträger unterliegt, Mitteilungen nicht verhindert, die schon deshalb aufschlußreich sind, weil sie heute, in Polens fast aussichtslos stagnierender Lage, publiziert werden.

So erfährt man, daß der General, der durch Verhängung des Kriegsrechts die „Solidarnosc” im Dezember 1981 zerschlug und seitdem jeden Versuch ihrer Wiederbelebung verhindert, noch im Februar 1981 diese freie Gewerkschaft „durchaus positiv” bewertet und die seit August 1980 vollzogenen politischen Veränderungen in Polen für „nicht umkehrbar” gehalten habe.

Deshalb wohl holte Jaruzelski in die Führung einen Mann wie Rakowski; als Chefredakteur der

— auch von Nichtkommunisten geschätzten — Wochenzeitung „Polityka” hatte dieser seit langem die These verfochten, der „polnische Sozialismus” bedürfe gründlicher, kluger, freilich evolutionärer „Reformen von oben”. Sie wurden mm jedoch von unten, fast revolutionär und explosiv in Gang gebracht, ausgelöst durch die Streikbewegung der Arbeiter.

„Ich habe nie abgestritten, daß die Partei die Hauptverantwortung für die in den siebziger Jahren entstandene Situation trägt, die im Juli/August 1980 zu einem berechtigten Massenprotest geführt hat”, so notierte Rakowski, der sich als „klassisches Beispiel eines Mannes der Mitte” bezeichnet, noch Anfang November 1981.

Zu diesem Zeitpunkt war seine Vorstellung von „echter Partnerschaft” zwischen „oben” und „unten” schon nahezu gescheitert und jeder Ansatz von „Respekt vor dem Partner”, den Rakowski der Staatspartei wie der „Solidarnosc” empfohlen hatte, in gegenseitige Verachtung umgeschlagen. Sie traf auch ihn selbst, den Mann, der zwar zwischen den Stühlen saß, doch auf dem Boden einer Realität, in der schon immer politisch-ideelle Ohnmacht letztlich durch Brachialgewalt kompensiert worden war...

Rakowski scheint noch heute zu bezweifeln, daß dies von Anfang an kaum vermeidbar war — und gerät damit selbst in die Nachbarschaft jener „tragischen Träumer”, mit deren - in Polen so verbreiteten — politischen Romantik er nichts zu tun haben will.

Allerdings wird das, was er als persönliche bittere Erfahrung, zumal als Verhandlungspartner der „Solidarnosc” beschreibt, in einem erstaunlichen Ausmaß bestätigt durch die erste dokumentierte Darstellung, die der polnische Historiker Jerzy Holzer versucht, der politisch auf der Gegenseite steht und sein Buch zuerst in einem Untergrundverlag hatte erscheinen lassen.

Holzer kommt zu dem Schluß, daß Handlungsspielraum und Erfolgs-Chancen der „unblutigen Revolution” vom Anfang bis zum Ende ihrer sechzehnmonatigen Lebensdauer sehr klein waren; denn ihre zunehmende Radikalisierung sei die nahezu unvermeidliche Folge der Reformunfähigkeit und -unwilligkeit des Regimes gewesen. Nicht aber auch zugleich deren Ursache — und Alibi?

Der Historiker deutet diese verhängnisvolle Wechselwirkung nur an. Doch den mit ihr verbundenen Radikalisierungsprozeß in der „Solidarnosc” bis zur „chaotischen Streikaktivität”, zum „realitätsfernen Messianismus” (in der Botschaft an die Völker Osteuropas), zur Konfrontationsund Machtübernahme-Stimmung der Endphase und zur

„selbstmörderischen Uberzeugung, daß (dabei) nichts passieren kann” - all dies schildert Holzer ausführlicher, differenzierter und dadurch noch überzeugender als Rakowski.

Holzer bescheinigt Rakowski, daß er „zur vermeintlichen Symbolfigur der Reformpolitik” geworden war und zitiert sogar aus dessen Parteikongreßrede vom Juli 1981 unverkennbar Kritisches über die sowjetische Verständnis-losigkeit - Sätze, die Rakowskis Tagebuch nicht wiederholt.

In den Aufzeichnungen Rakowskis spiegelt sich dafür die ebenso untergründige wie dauerhafte Spannung, die in Polen schon immer bestand zwischen „wladza”, der Staatsmacht (die in den Zeiten der Teilungen sogar eindeutig eine ausländische war) und „spoleczenstwo”, die nur ganz unzulänglich mit „Gesellschaft” oder „Bevölkerung”, übersetzt wird; gemeint ist das Gemeinwesen diesseits seiner soziologisch oder politisch erfaßbaren Gestalt, aber auch „die Gesamtheit der Organisationsformen außerhalb der staatlichen Sphäre”.

Abweichung ist die Norm

So definiert den Begriff Helga Hirsch, die einen wichtigen, sehr informativen Beitrag zur bisher wenig beachteten Vorgeschichte von Solidarnosc leistet.

Ihr Buch schildert Entstehung und Entwicklung, Gemeinsamkeiten und Gegensätze der aus der „Umbruchsituation” der Jahre 1970 bis 1975 hervorgegangenen Oppositionsgruppen, von denen „KOR” die im Westen bekannteste wurde. Helga Hirsch weist darauf hin, daß dabei der Begriff „Dissidenten” in Polen unüblich ist, weil diese „nicht die Abwei-chungjSondern die Norm” darstellen - man könnte auch sagen: die Abweichung ist in Polen die Norm.

Dies freilich hat dort zwischen den periodisch wiederkehrenden Systemkrisen, ja sogar in den Jahren des Stalinismus, nie eine so totalitär funktionierende Diktatur entstehen lassen wie etwa in Ungarn, wo der Ausbruch 1956 blutig endete, oder in der Tschechoslowakei, wo der „Prager Frühling” 1968 von „oben” die auslösenden Impulse erhielt, nämlich aus der gleichen kommunistischen Führungsschicht, die vorher und nachher die „Frostperiode” verwaltete.

Die Solidarnosc-Bewegung und ihre oppositionellen Vorläufer zogen aus diesen „vergleichbaren Erfahrungen” (Jerzy Holzer) nur in unzureichendem Maß den Schluß, daß auch ihr Spielraum begrenzt war, sondern sie wähnten auf Grund des andersartigen Grundklimas in Polen, bessere Chancen zu haben. Selbstsicher ließen sie die Nachkriegserfahrung mit kommunistischen wie mit katholischen „eigenen Wegen” hinter sich.

Ob nun heute in Polen der marxistische Revisionismus” und der (in den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts wurzelnde) katholische „Positivismus” endgültig gescheitert sind (wie Helga Hirsch anzunehmen scheint) oder ob diese gleichsam system-imma-nenten Reformkräfte nach der großen Niederlage der organisierten Opposition nun doch wieder wirksam werden könnten — das wird sich erst in der Zukunft erweisen.

Sowohl die Staatspartei als auch die Kirche stehen als Institutionen unter Selbsterhaltungszwang und scheuen auch deshalb letztlich jede systemsprengende Konfrontation. Die Idee der „Selbstverteidigung und Selbstverwaltung der Gesellschaft (spoleczenstwo)” - von jenen mehr oder weniger demokratischen Oppositionsgruppen zum Programm erhoben — bleibt gewiß wirksam als moralische Herausforderung an die ideelle Ohnmacht des Regimes; doch diese Idee steht zugleich unter Utopieverdacht, wie Hans Henning Jahn in seiner nachdenklichen Einführung zu Holzers Buch andeutet, um dann doch „neue Formen und Wege” für möglich zu halten, die Polens Tradition gesellschaftlicher Selbstverteidigung weiterführen.

Eines Tages also doch „Koexistenz von Staat und Gesellschaft”?

Wer die wenigen Tagebuch-Notizen Rakowskis aus der Zeit des Kriegsrechts bis Ende 1983 best (von 1984 stammt nur sein Nachwort) kann kaum Perspektiven einer solchen Chance entdecken -es sei denn man betrachtet sein Rezept einer „Disziplinierung der Gesellschaft” plus Wirtschaftsreform noch als gangbaren Weg. „Wenn wir es fertigbringen, uns über unsere Emotionen zu erheben ...” meint er - und kommt doch selbst nur schwer von ihnen los.

EIN SCHWIERIGER DIALOG. Aufzeichnungen zu Ereignissen in Polen 1981—1984. Von Mieczyslaw F. Rakowski. Econ-Verlag, Wien-Düsseldorf 1985. 269 Seiten, geb., öS 288.80.

SOLIDARITÄT. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. Von Jerzy Holzer. Verlag C. H. Beck. München 1985. 442 Seiten, Pbck., öS 31030.

BEWEGUNGEN FÜR DEMOKRATIE UND UNABHÄNGIGKEIT IN POLEN 1976-1980. Von Helga Hirsch. Mathias Grünewald-Verlag. Mainz. 176 Seiten, Pbck., öS 171,60.

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