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Polen voller Tränen

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Die Tränengasschwaden haben sich in Polen verzogen, dennoch gibt es genug Tränen: Tränen der Trauer über die Toten, die dieser letztlich irrationale Konflikt wiederum gefordert hat, Tränen der Verwundeten ob ihrer Schmerzen, Tränen der Erbitterung und Enttäuschung, Tränen der Machtlosen und Gedemütigten — und wohl auch Tränen des Zorns, die die Quelle künftiger Auseinandersetzungen und Konflikte sein werden.

Für beide Seiten im Land an der Weichsel — Regime und Bevölkerung, die sich nach wie vor mit den Grundideen und Zielen der suspendierten Gewerkschaft „Solidarität" identisch fühlt (wenn auch nicht unbedingt mit den jeweils konkreten Aktionen ihrer Unter-Grundführer) sollten die Unruhen der vergangenen Woche Anlaß zur Bilanz geben.

Partei- und Regierungschef Jaruzelski kann sich nicht länger mehr darüber hinwegtäuschen, daß sein Traum von einer Stabilisierung und „Normalisierung" ausgeträumt ist. Seine Vision von einem „starken Polen" mit festen Strukturen, in dem der dem polnischen Volk eignende Liberalismus nicht zwangsläufig in Anarchie und Selbstzerstörung auswuchert, ist ausgeträumt. Dieser hochintelligente Mann im Generalsrock muß sich im klaren sein, daß dies nur mit einem Mindestmaß an gesellschaftlichem Konsens möglich gewesen wäre.

Aber er hat zur Gewaltanwendung und zu Methoden blutiger Zwangsbeglückung gegriffen, die das herbeiführten, was sie vorgaben, verhindern zu wollen — nämlich erst recht breite gesellschaftliche Verweigerung, Ablehnung von Autorität und Staat, Unruhe und Anarchie.

Auch die wirtschaftlichen und politischen Folgen von neun Monaten Kriegsrecht sind äußerst bescheiden: Mißwirtschaft und Verschwendung haben nicht auf-

gehört, die statistischen Daten zeigen weiterhin ein ökonomisches Tief (mit Ausnahme der Kohleproduktion), die Unfähigkeit und Korruption der Verwaltung wurde erst jüngst durch die Ablösung des Woiwoden von Thorn und weiterer 245 höherer Beamter offenkundig, der Prozeß der Ausblutung der Partei geht weiter, die Indizien von Spannung zwischen Armee, Polizei und Geheimdienst, die noch mehr Eigenleben zu entwickeln beginnen, häufen sich.

Jaruzelski ist vorerst gescheitert und betreibt eine alternativlose Politik, die auf Widerstand

mit Gewalt, auf noch mehr Widerstand mit einem weiteren Anziehen der Schrauben antwortet und im übrigen mit Sturheit das alte Konzept kommunistischer

Mächtpolitik fortsetzt: nämlich den Gegner aufzuspalten, zu verunsichern und zu täuschen.

Der Spaltung dient die Politik gegenüber der Kirche, deren Hierarchie vom Regime hofiert wirxl, während der niedere Klerus zunehmend Repressalien und Verfolgung ausgesetzt ist.

Durch so simple Tricks — wie aus Bischofsworten und Hirtenbriefen die nur dem Regime genehmen Stellen in der offiziellen und zensurierten Presse zu zitieren - soll die Kirche als Kollaborant denunziert und vom Volke abgespalten werden. Ein zwar hoffnungsloses, aber doch versuchtes Unterfangen.

Der Verunsicherung und Täuschung dienen die stets formelhaft herabgeleierten Bekenntnisse des Militärregimes zu Reformen, zum Neuaufbau der Gewerkschaften, der Reorganisierung der Wirtschaft usw.

Aber nicht nur der Militärrat und die Partei stecken in einer

Sackgasse — auch die Unter-grund-„Solidarität". <

Sie kann zwar auf unzweifelhafte Organisationserfolge hinweisen, das konspirative Netz im Land an der Weichsel ist dichter geworden, der Aufbau einer „Gegengesellschaft" in den politischen Katakomben schreitet rasch voran. Doch die Frage nach der Strategie für die Zukunft wird immer brennender.

Mit Demonstrationen und Unruhen wie jenen von der vergangenen Woche ist das Regime weder aus dem Sattel zu heben (was gar nicht beabsichtigt war) noch (was vielleicht viel wichtiger ist) zu Kompromissen, Zugeständnisseh oder einer auch nur schrittweisen Umkehr zu bewegen. Im Gegenteil, es verhärtet sich.

Der Preis, den also die Untergrundführer zu zahlen haben, ist viel zu hoch im Vergleich zu dem, was erreicht werden kann: nämlich dem Regime zu zeigen, daß man „da" ist, daß die Idee der „Solidarität" in der Bevölkerung noch lebt.

Die Untergrund-„Solidarität" muß sich darüber im klaren sein, daß nicht jeder zum Helden und Märtyrer geboren ist, daß die Aussichtslosigkeit der Lage auf die Dauer zermürbt und daß die eigenen Waffen ihre Schockwirkungen verloren haben und stumpf zu werden beginnen: Der Protest laugt aus, die „Gegengesellschaft" erfordert Opfer, die man nicht endlos bringen kann.

Der von manchen Untergrundführern empfohlene „Marsch durch die Institutionen" bedeutet nicht nur eine lange Durststrecke des Wartens, sondern geht auch von der Illusion aus, ein kommunistisches System ließe sich von innen her aufweichen und transformieren.

So steht auch die „Solidarität" "des Untergrundes wegen der künftigen Strategie vor einer inneren Zerreiß- und Belastungsprobe.

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