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Polen: Zittern vor einem Bürgerkrieg"

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In den mehr als drei Monaten Kriegszustand, in dem sich 'Staat und Gesellschaft in Polen immer aussichtsloser gegenseitig „belagern", hat sich untergründig Explosionsstoff gestaut, dem nicht mehr — wie vor dem 13. Dezember 1981 — Ventile geöffnet sind. Unkontrollierbare Ausbrüche mehren sich, doch nicht etwa als Signale einer im Untergrund ausgeheckten „Strategie des Terrorismus", wie die Warschauer Militärzeitung glauben machen will.

In den Internierungslagern, wo jetzt selbst radikale politische Denker wie Adam Michnik selbstkritisch Bilanz ziehen, aber auch bei den leitenden Köpfen der konspirativen Gruppierungen herrscht heute, trotz allen von Resignation durchsetzten Orientierungsschwankungen, vor allem ernüchterte Reflexion, kaum blinde Wut.

„Einen echten, dauerhaften Kompromiß", der auch definitive Machtverzichte einschließen soll, hat jetzt die Untergrundorganisation von „Solidarnosc" auf ihr Programm geschrieben.

Die Schreckenszeichen anarchischer Verzweiflung breiten sich hingegen ganz ohne Strategie und Taktik in den verschiedensten Volksschichten aus, besonders in der jüngeren Generation.

Besorgte Beobachter, zumal im kirchlichen Milieu, fragen sich: Was wird geschehen, wenn Kinder nicht mehr nur - wie es jetzt oft geschieht - Flugblätter in ihren Schultaschen transportieren? Wenn verantwortungslose Fanatiker, die es auf beiden Seiten der Barrikaden gibt, jugendlichen Uberschwang zu terroristischen. Aktionen mißbrauchen?

Ein Bürgerkrieg braucht nicht „klassische" Formen anzunehmen. Polen ist nicht El Salvador, auch wenn Primas Glemp nicht von ungefähr dieses Stichwort genannt hat. Aber bürgerkriegsartige Zustände könnten sich aus Kettenreaktionen, auch psychologischen, entwickeln, die von Einzeltaten ausgelöst werden.

Die Kirche, zu allen Zeiten Zuflucht der Polen, nicht nur geistiger, oft auch buchstäblicher Unterschlupf, spürt die Herausforderung zu jener politisch mißverstandenen „Theologie der Befreiung" auf sich zukommen, die Papst Wojtyla überall und entschieden abgelehnt hat und deren (auch für die Kirche) selbstmörderische Gefahren der Episkopat klar erkennt.

Ob diese Risiken aber von all den patriotischen Priestern in Stadt und Land immer einkalkuliert sind? Wenn jetzt nicht wenige von der Kanzel den ohnmächtigen Nachbarn heftig ins Gewissen reden oder auch nur im verschwiegenen Beichtstuhl Gewissensentscheidungen abzusegnen oder zu verwerfen haben?

Eine offene Konfrontation mit der Kirche wäre andererseits das, was den Kriegsrechtsherren in ihrer fatalen Lage gerade noch fehlte. Als „Zauberlehrlinge", die nicht wissen, wie sie ihren eisernen Besen wieder loswerden, könnten sie freilich zu einem solchen Zusammenstoß getrieben werden — dann nämlich, wenn sich zwischen besonnener Kirchenführung und einer rebellischen Mehrheit des Klerus eine Kluft bildet

Darauf spekulieren gewiß einige kommunistische Sektierer, die über den Trümmern ihrer Partei brüten. Und eben dies fürchten andererseits manche Bischöfe, von denen einige zu bedenken geben, der Episkopat dürfe sein und der Kirche moralisches Prestige nicht durch Vorsicht aufs Spiel setzen, er müsse sich deshalb mehr an jenem (laut Primas Glemp: erkrankten) Volksempfinden orientieren, mit dessen Puls das Herz der Pfarrer schlage.

Diskussionen dieser Art kann sich die polnische Bischofskonferenz durchaus leisten, doch Differenzen nicht. Im „vielleicht schwierigsten Augenblick ihrer Geschichte" (so Primas Glemp) besitzt die polnische Kirche eine Führung, die ihren internen Dialog zum Vorteil einer allseitigen Lage-Analyse und zu besonnenen Schlüssen zu nutzen versteht.

Die Bischöfe rufen jetzt nicht mehr nur, wie so oft, zu einer allgemeinen „Verständigung" (Po-rozumienie), sondern zu einer „gesellschaftlichen Ubereinkunft" (Ugoda) auf, gleichsam einem neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Regierten und Regierenden, an die sich ihre Forderungen gleichermaßen richten. Freilich, ihr Kernsatz lautet, im Schatten der Katastrophe: „Wir sind uns bewußt, daß Staatsmacht und Gesellschaft sich bei der wirksamen Erfüllung ihrer Aufgaben gegenseitig bedingen".

Dieser Teufelskreis, in dem Kriegszustand und Widerstand einander aufrechterhalten, wäre durchbrochen, wenn beide Seiten „übereinkommen": Die Bischöfe machen den Militärs klar, daß sie dazu „glaubwürdiger" Partner bedürfen, also nicht selbstfabrizierter, sondern „authentischer" Volksvertreter, wie Andrzej Mi-cewski, der Verbindungsmann des polnischen Episkopates zum Militär, sie nennt:

„Es dürfen keine gesellschaftlichen Kräfte übergangen werden, die tatsächlichen Einfluß auf das Bewußtsein der polnischen Gemeinschaft haben."

Und das Volk - braucht es nicht auch eine „glaubwürdige" Regierung? Davon sprechen die Bischöfe nicht. Einer fragwürdigen Wiederauferstehung der Partei scheinen sie im Grunde ein moderates Militärregime vorzuziehen, das die nötige politische Fassade ersetzen muß — „vielleicht sogar für Jahrzehnte", wie der Parteisoziologe Jerzy Wiatr vor Monaten prophezeite.

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