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Polens „Solidarnosc” lebt

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Der jüngste Konflikt in Polen um die geplanten Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und Energie hat die Aufmerksamkeit auf ein nach wie vor spannungsgeladenes „Dreieck” gelenkt: Regime, offizielle Gewerkschaften und die im Untergrund agierende Arbeiter- und Oppositionsbewegung der „Solidarität”.

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Der jüngste Konflikt in Polen um die geplanten Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und Energie hat die Aufmerksamkeit auf ein nach wie vor spannungsgeladenes „Dreieck” gelenkt: Regime, offizielle Gewerkschaften und die im Untergrund agierende Arbeiter- und Oppositionsbewegung der „Solidarität”.

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Es gibt keine Alternative für uns als weiterzukämpfen.” Das hatte der ehemalige „Solida-ritäts”-Führer Bogdan Lis in der zweiten Jänner-Hälfte in einem Interview gesagt. Wenig später wurde er — gemeinsam mit sechs anderen ehemaligen Führern — verhaftet.

Anlaß dafür war eine geheime Beratung der ehemaligen „Soli-daritäts”-Führer in einer Danzi-ger Wohnung gewesen. Dabei war beschlossen worden, gegen die von der Regierung beschlossenen

Preiserhöhungen bei Lebensmitteln (12 - 13 Prozent) und bei Energie (bis zu 63 Prozent) eine Protestaktion zu starten: 15 Minuten Generalstreik am 28. Februar. Er wurde inzwischen ja abgeblasen.

Die Verhaftung der sieben „So-lidaritäts”-Führer (vier wurden wieder freigelassen), die Gegenpropaganda des Regimes gegen den geplanten Proteststreik und eine Reihe anderer Indizien zeigten: Die verbotene Gewerkschaft „Solidarnosc”, selbst in westlichen Medien oft schon totgesagt, ist nach wie vor am Leben und ein politischer Faktor.

Das läßt sich auch aus einer Reihe von „Gesprächen” herauslesen, die in der reich blühenden Untergrundpresse in Polen jüngst veröffentlicht worden sind. Sie zeichnen, durchaus nicht schönfärberisch und darum glaubhaft, den aktuellen Stand der Untergrundarbeit der Gewerkschaft.

In „Wola”, einer Untergrundzeitschrift in Warschau, bekennt ein „Solidaritäts”-Aktivist in der Schokoladefabrik „22. Juli” folgendes:

„Wir hatten etwa 1800 Angestellte. Vor der Verhängung des Kriegsrechtes gehörten rund 90

Prozent der Belegschaft zur Solidarnosc. Natürlich sind jetzt unsere Reihen lichter geworden. Aber es gibt noch immer einen harten Kern, eine kleine Anzahl von Menschen, die wirklich etwas tun.” Uber die zahlenmäßige Größe des „harten Kerns” ist nichts zu erfahren.

Aus der Untergrundzeitschrift „Tygodnik Mazowsze” ist über die Lage im großen Stahlwerk Nowa Huta zu erfahren: „Bei uns in Nowa Huta”, so der anonym bleibende Untergrundgewerkschafter „gibt es 30.000 Beschäftigte in den vier Schichten, dazu noch zehn bis fünfzehntausend Arbeiter aus Firmen in der Nähe. Ungefähr siebentausend sind auf Seite der .Solidarnosc'. Wir haben sogar eine eigene Untergrundzeitschrift, den ,Hutnik\”

Erstaunlich, was diese Untergrundgewerkschaft—laut eigenen Aussagen — auf die Beine stellen konnte: Einige „unabhängige” Apotheken, die die Mangelware „Medikamente” gerecht verteilen. Aus Mitteln des geheimen Sozialfonds konnten im letzten Sommer 400 Kinder von Stahlarbeitern auf ein Sommerlager geschickt werden.

Der Sozialfonds der Untergrundgewerkschaft in Nowa Huta hat auch Kontakte mit den Bauern der Umgebung geknüpft, die besonders bedürftige Familien mit Gemüse und Erdäpfeln zu billigen Preisen beliefern.

Daß zwischen den offiziellen Gewerkschaften und der illegalen und geheimen „Solidarität” oft auch ein Konkurrenzverhältnis besteht, bestätigt der Bericht in der Untergrundzeitschrift „Wola” über das Radio-Werk ZWAR in Warschau.

Seinerzeit gehörten von den 2500 Beschäftigten rund 2100 zur „Solidarität” - und 200 zu den alten Branchengewerkschaften. Jetzt gehören zu den „neuen” offiziellen Gewerkschaften bei ZWAR nur 208 Arbeiter, 30 Prozent davon sind Pensionisten (was nach dem neuen Gewerkschaftsgesetz möglich ist).

Der anonym bleibende „Solida-ritäts”-Gewerkschafter gibt aber zu, daß sich die regimetreuen Gewerkschaften für eine Lohnerhöhung eingesetzt haben und auch den Betriebsdirektor wegen schlechten Managements und schlechter Lohnpolitik angegriffen haben. Nach Ansicht der dortigen geheimen „Solidaritäts”-Zelle ist das freilich zu wenig. Mit einigem Mißbehagen hat man sich auch an den Selbstverwaltungsorganen beteiligt.

Das Beispiel der Fabrik ZWAR zeigt sehr deutlich, daß die „Solidarität” lebt und aktiv ist, daß sie aber in gewissem Maße durch beherzte und mutige Funktionäre der offiziellen Gewerkschaften auf Betriebsebene auch einer gewissen Konkurrenz ausgesetzt ist.

Diese offiziellen Gewerkschaften mit nunmehr fast fünf Millionen Mitgliedern (davon angeblich an die 20 bis 25 Prozent Pensionisten) befinden sich in einer schwierigen Lage — nämlich zwischen „Hammer und Amboß”, wie es bei der letzten Zusammenkunft in Beuthen (Bytom) einer ihrer Funktionäre ausgedrückt hat.

Denn: Um bei den Arbeitnehmern glaubwürdig zu bleiben, Mißtrauen abzubauen und ein wenig an Reputation zu gewinnen, müssen sie auf einen verbesserten Lebensstandard dringen, Betriebsdirektoren kritisieren, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen verlangen — ja sich sogar gegen die geplanten Preiserhöhungen der Regierung aussprechen.

Gleichzeitig stehen sie aber unter dem Zwang „von oben”, ihren Mitgliedern nahezulegen, bei den Forderungen an die Regierung „realistisch” zu sein — und vor allem auf die Streikwaffe zu verzichten.

Theoretisch ist nach dem neuen polnischen Gewerkschaftsgesetz nach einem langwierigen Schlichtungsverfahren der Streik prinzipiell noch immer möglich. In der Praxis ist es zumindest bisher noch nie von den Tausenden der offiziellen Betriebsgewerkschaften in Anspruch genommen worden.

Regime die Stirn geboten

„Polnische Gewerkschaften haben jetzt weltweit den Ruf, sie seien den Behörden unterworfen”, meinte jüngst der Chef der offiziellen Metallarbeitergewerkschaft, Zenon Lysek. Aber er fügte hinzu: „Eine Unterwerfung wird es nicht geben, und wir werden sehen, wer recht behalten wird.”

Der Ausgang im jüngsten Konflikt um die Preiserhöhungen scheint Lysek recht zu geben. Mit Worten wie „unannehmbar” und mit der kritischen Bemerkung, die zum Ausgleich angebotenen Teuerungszulagen seien „irreführend und unglaubwürdig”, haben die offiziellen Gewerkschaften dem Regime tatsächlich die Stirn geboten und sich nicht „unterworfen”. Sicherlich hat dazu auch beigetragen, daß die „Solidarität” für einen Warnstreik plädiert hat.

Faktum jedenfalls scheint zu sein: Sowohl die offiziellen Gewerkschaften als auch die Unter-grund-„Solidarität” sind ein politischer Faktor in Polen. Das führt gelegentlich zu „knisternder Spannung” und beschränkt ein wenig die Macht des Regimes, ohne grundsätzlich etwas an der tristen politischen und wirtschaftlichen Konstellation zu ändern.

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