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Polit-Manöver mit hohem Einsatz

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Mancher Beobachter mag geneigt sein, in den Ereignissen in Neukaledonien eine der letzten Phasen der französischen Entkolonialisierung zu sehen. Dort jedoch steht viel mehr auf dem Spiel - für Frankreich wie für die freie Welt.

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Mancher Beobachter mag geneigt sein, in den Ereignissen in Neukaledonien eine der letzten Phasen der französischen Entkolonialisierung zu sehen. Dort jedoch steht viel mehr auf dem Spiel - für Frankreich wie für die freie Welt.

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Vor rund 140 Jahren ließen sich die ersten waghalsigen französischen Siedler auf dem fernen Inselarchipel im südlichen Pazifik nieder. Es wurden auch Sträflinge verschickt und nach 1870 Uberlebende des Aufstands der Pariser Kommune. Die Nickelgruben zogen Arbeitskräfte aus benachbarten Inseln bis nach Polynesien an, ferner aus Indonesien und seit einigen Jahren Flüchtlinge aus In-dochina. Ein kleiner Teil der Algerienfranzosen zog schließlich den Pazifik dem untreu gewordenen Mutterland vor.

Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Archipel, das eine Fläche von etwa zwei Drittel Belgiens hat, zu einem Schmelztiegel der Rassen. Fast die Hälfte der 140.000 Einwohner sind heute Mischlinge. Es leben dort lediglich 29.000 reine Melanesien die sich Kanaken nennen, und 25.000 reine Europäer. Die Mischlinge bilden keine eigene Gruppe, sondern verteilen sich je nach Ursprung und Neigung auf verschiedene nationale Gemeinschaften.

Die kanakische Unabhängigkeitsbewegung stützt sich nur auf eine Minderheit der Bevölkerung. Die meisten ihrer Führer sind Mischlinge, während in umgekehrter Richtung die Europäer mit der Unterstützung einer nicht geringen Zahl von Kanaken oder Mischungen rechnen dürfen.

Die sich als sozialistisch-revolutionär bezeichnenden Kanaken haben eine eigenartige Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht. Für ihre Unabhängigkeitsforderung berufen sie sich auf das angeblich natürliche Recht der Ureinwohner. Alle anderen sind Fremdlinge, die sich ihrem Willen zu unterwerfen haben.

Das von Frankreich in Aussicht gestellte Referendum wird von ihnen nur dann anerkannt, wenn es ihnen die Unabhängigkeit bringt. Deshalb wollen sie den Europäern und den Einwanderern aus dem Pazifik, die seit Jahrzehnten im Lande leben, das Stimmrecht versagen. Sie versprechen ihnen zwar eine großzügige Gastfreundschaft, wollen aber bezeichnenderweise ihre blockierende Aktion gegen die Nickelgruben nur einstellen, wenn die eingewanderten farbigen Arbeitskräfte durch Kanaken / ersetzt werden.

Die revolutionären Kanaken wissen natürlich sehr genau, daß sie auf demokratische Weise die Macht nicht zu erobern vermögen. Denn die Anhänger der Autonomie und der weiteren Verbindung mit Frankreich besitzen ohne Zweifel die Mehrheit. Selbst in den Reihen der Kanaken mangelt es nicht an Kräften, die schon aus wirtschaftlichen Gründen vor dem Wagnis der Unabhängigkeit zurückschrecken und die Folgen eines revolutionären Kurses fürchten.

Es war die unverständliche Fehlleistung des französischen Präsidenten und seiner Minister, den revolutionären Kanaken, wohl hauptsächlich weil sie sich sozialistisch nennen, die Unabhängigkeit zu versprechen, ohne die Zusammensetzung der Bevölkerung und die strategische Bedeutung des Archipels genügend in Rechnung zu stellen. Erst jetzt beginnt man an höchster Pariser Stelle, die Realitäten zu erkennen und zu versuchen, einen schwerwiegenden Irrtum wieder gutzumachen.

Man hätte es sich jedoch unschwer ausrechnen können, daß Neukaledonien, dessen Volkseinkommen zur Hälfte in verschiedener Form von Frankreich gestellt wird, als unabhängiger Staat nicht lebensfähig ist, ebensowenig wie alle benachbarten Miniaturrepubliken. Nicht unbekannt waren ferner die Querverbindungen der Kanaken mit Vanauta, dem ehemaligen französisch-britischen Kondominium der Neuen Hebriden, das Kontakte mit Moskau anknüpfte.

Die Sowjetunion zeigt auch Interesse für die Salomon-Inseln, während sich die Fidschi-Inseln vorläufig noch im Bannkreis Australiens befinden. Eine Gruppe von Kanaken begab sich ferner nach Libyen, um sich dessen Hilfe zu sichern. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Ghaddafi sich im Interesse Moskaus auf einige politische Manöver im Pazifik einläßt.

Beruhigend für den Westen ist zumindest theoretisch der unverkennbare Ehrgeiz Australiens, die Rolle der Schutzmacht im Pazifik zu spielen. Leider fehlt ihm aber hierzu völlig das Potential.

Der französische Präsident hätte sich auch daran erinnern können, daß sich die amerikanische Marine nach dem Kriegseintritt Japans sehr beeilte, Neukaledonien zu besetzen, damit es nicht in die Hände der Japaner fiel. Es blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs einer der wichtigsten Stützpunkte im Pazifik. Daran hat sich nichts geändert, seitdem die japanische Bedrohung durch die sowjetische ersetzt wurde.

Hierzu kommen erhebliche wirtschaftliche Interessen. In Neukaledonien lagern zwischen einem Viertel und einem Drittel der Nickelvorräte der Welt. Die sich auf dem Grunde des Pazifiks befindenden Metallknollen dürften im kommenden Jahrhundert zu einer der wichtigsten Rohstoffquellen der Welt werden.

Hauptsächlich dank seiner pazifischen Besitzungen verfügt Frankreich auf den Ozeanen augenblicklich eine Hoheitszone von elf Millionen Quadratkilometern. Es ist schwer vorstellbar, daß sich Polynesien mit dem jetzigen Statut der Autonomie begnügt, wenn Neukaledonien unabhängig wird.

Es besteht auch eine Anstek-kungsgef ahr für die drei französischen Departements in der Karibik und für die afrikanische Insel La Reunion, wo sich seit einiger Zeit separatistische Tendenzen bemerkbar machen. Mitterrand hält sie zwar für belanglos, weil sie dem Volkswillen entgegenlaufen, er übersieht jedoch, daß er in Neukaledonien einer Minderheit die Unabhängigkeit in Aussicht stellt.

Deswegen ist wohl Mitterrand in jüngster Zeit vorsichtiger und härter geworden. Die Unabhängigkeit soll sich nunmehr nicht nur mit handfesten Garantien für die

Europäer und die Minderheiten aus dem Pazifik verbinden, denn Frankreich will außerdem die Verantwortung für die Verteidigung und die öffentliche Sicherheit behalten.

In Neukaledonien soll deswegen ein starker militärischer Stützpunkt entstehen. Dort befinden sich bereits 7000 Soldaten, Gendarmen undPolizisten. Weitere Verstärkungen sind vorgesehen.

Nicht mit Unrecht stellen sich die unverändert von Mitterrand gepflegten sozialistischen Kanaken die Frage, was unter diesen Umständen von ihrem Unabhängigkeitstraum verbleibt. Ihre Antwort ist klar und brutal. Sie wollen nicht den kleinen Finger, sondern die ganze Hand, um anschließend als selbständiger Staat zu entscheiden, was sie Frankreich als Gegenleistung anbieten.

Der französische Präsident steht vor einem innenpolitischen Dilemma. Gibt er den Kanaken nach, erhält die Opposition einen neuen und kräftigen Auftrieb, von den gefährlichen außenpolitischen Rückwirkungen ganz abgesehen. Beharrt er auf den Beschränkungen der versprochenen Unabhängigkeit, droht ihm eine Kraftprobe mit den revolutionären Elementen.

Sie aber würde von seinen sozialistischen Freunden als weitere Abkehr von der von ihm erwarteten Linie gedeutet werden und seine innenpolitische Position ebenfalls schwächen. Da die Anhänger der Autonomie in Neukaledonien nicht zur Kapitulation bereit sind, dürfte sich Mitterrand der zweite Weg aufzwingen.

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