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Politik aus Glauben

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Die heutige Zivilisation ist so komplex geworden, daß sie vom einzelnen nur mehr in Auswahl angeeignet werden kann. Damit haben sich aber auch die Lernbedingungen für „Sinn” und „Moral” grundlegend geändert. Das Allgemeinverbindliche ist anonym geworden. Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz, usw. finden heute kaum mehr jene Anschaulichkeit, die auf dem Wege über die Identifikation das Bewußtsein des einzelnen bestimmen könnte.

Dieselbe Anonymität beherrscht auch die Sozialbeziehungen: Der einzelne wird immer leichter ersetzbar, an ihm sind jeweils nur noch bestimmte Eigenschaften gefragt.

Damit stellt sich aber für die Kirche die Frage, ob in einer derartig eindimensionalen Gesellschaft, wenn der Einzelmensch als deren Sozialisationsprodukt mangels Normen ohne persönliche Schuld gewissenlos würde, die Weitervermittlung des Evangeliums noch sichergestellt werden könnte. Wie könnte sich das Christentum in einer wissenschaftlich-technisch orientierten Gesellschaft, die durch bloße Funktionszuweisung an den einzelnen die Integration des Gesamtsystems zu gewährleisten hofft, noch als strukturbildend ausweisen?

So wird zunächst die Zurückhaltung der Kirche in diesem Ubergangsstadium verständlich, nämlich dem Christen zuzumuten, als Weizenkorn in den Acker des Zeitalters hineinzusterben — eines Zeitalters, das morgen schon für denselben Christen endzeitliche Züge aufweisen kann. Und dennoch muß man fragen, ob die Kirche ohne Inkarnation, ohne Einfleischung in Gesellschaft und Geschichte — dies ist,.Katholizismus” - inmitten so vieler Untergänge und Neuaufgänge ihre unaufgebbare Mission erfüllen kann.

Die vielbeklagte Säkularisierung der Gesellschaft hat auch ihr Gutes. Nachdem fast alle politischen, sozialen und kulturellen Stützen des Glaubens und der Kirche — auch die einer antimodernistischen katholischen Subkultur — in den letzten 50 Jahren weggefallen sind, vermag sich nur der bewußte, entschiedene, nach allen Seiten hin mündige Christ in dieser auf sich selbst zurückgefallenen Welt zu behaupten — einer Welt, die sowohl Gottes gute Schöpfung bleibt, als auch zum Inbegriff kranker, sündiger Strukturen werden kann.

Allein schon das Engagement für die Armen, für die Unterdrückten und Ausgebeuteten, für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in aller Welt setzt einen wachen, einsatzbereiten, aufopferungsfähigen, glaubensglühenden Typus auch des Weltchristen, des Laien, voraus. Eine der Voraussetzungen für die neu-alte Sendung des Christen in der Welt ist eine angemessene spirituelle und theologische Bildung. Darin wird er sich grundsätzlich nicht mehr vom Amtspriester unterscheiden.

Um aber aus der Tiefe der Existenz den Menschen von heute antworten zu können, wird der weltorieritierte Christ sich selbst den Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln des Zeitalters vorher ausgesetzt haben müssen. Es geht nicht bloß um einen reflektierten, sondern noch viel mehr um einen geprüften Glauben.

Das eigentliche Feld der Verantwortung des vom Zweiten Vatikanischen Konzil unwiderruflich mündig erklärten Laien ist die verwissenschaftlichte und technisierte, weithin anonym und unverantwortet gewordene, desa-kralisierte und permissive Gesellschaft am Vorabend des dritten Jahrtausends nach Christus. In dieser Perspektive sind die Mündigkeit des Weltchristen und die relative Autonomie der Kultursachgebiete reziproke Begriffe. Von diesem Aggiornamento wieder abzurücken, wäre geschichts-widrig.

Aus Bäumen der Vorbereitung und der Einübung — als solche müßten sich bei allem Pluralismus die vorhandenen offiziellen, offiziösen und noch nicht kirchlich anerkannten Laienbewegungen verstehen — hätten sich ge-schichtsrichtige Aktionen von einzelnen Christen und christlichen Gruppen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum zu entwickeln. Bald würde es sich darum handeln, eine „Politik aus dem Glauben”, eine „Wirtschaft aus dem Glauben”, eine „Kultur aus dem Glauben” zu wagen.

Diese Gegenwart des Christlichen ist ebenso eine Frage der exemplarischen Beiträge, die Christen als solche erkennbar zur Bewältigung von Problemen der Ge-genwarts- und der Zukunftsgesellschaft zu leisten vermögen. Dazu gehört auch das Aufspüren der neuerdings aus der Kirche ausgewanderten Christlichkeit in der zeitgenössischen Kunst und Literatur. Diese Fähigkeit setzt freilich eine Umgewichtung des Laienapostolates voraus, dem doch das Zweite Vatikanische Konzil in den Konstitutionen über die Kirche, über die Kirche in der Welt und über das Laien-apostolat so unmißverständlich die Richtung auf diese Gesellschaft und diese Zeit hingewiesen hatte.

Nichts über die Heranziehung von Laien zu unmittelbar kirchlichem Dienst, aber alles gegen den Rückzug ins Innerkirchliche, in ein neo-pietistisches Ghetto!

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