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Politik in den Clubs

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Unter dem Titel „Die Veränderung lenken“ publizierte Staats- und Innenminister Poniatowski Anfang Juni ein Buch, in dem er die Bilanz seiner einjährigen Tätigkeit als zweiter Mann der Regierung Chiracs und intimster Berater Staatspräsident Gis-card d'Estaings zieht. Auch sonst wurden in diesen Wochen zahlreiche Diskussionen geführt, Kommentare verfaßt und Sendungen, im Fernsehen ausgestrahlt, die, alle versuchten, das Phänomen Giscard d'Estaing, die Natur seines Regimes und die bisherigen Erfolge und Fehler der einjährigen Amtstätigkeit zu erklären. Rikv.

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Unter dem Titel „Die Veränderung lenken“ publizierte Staats- und Innenminister Poniatowski Anfang Juni ein Buch, in dem er die Bilanz seiner einjährigen Tätigkeit als zweiter Mann der Regierung Chiracs und intimster Berater Staatspräsident Gis-card d'Estaings zieht. Auch sonst wurden in diesen Wochen zahlreiche Diskussionen geführt, Kommentare verfaßt und Sendungen, im Fernsehen ausgestrahlt, die, alle versuchten, das Phänomen Giscard d'Estaing, die Natur seines Regimes und die bisherigen Erfolge und Fehler der einjährigen Amtstätigkeit zu erklären. Rikv.

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Selbstverständlich wurden im Verlauf der angestellten Überlegungen verschiedene Analysen über den gegenwärtigen Stand jener politischen Parteien und Kräfte angeboten, die sich zur Mehrheit bekennen. Die Da-

men und Herren des Kabinetts mußten sich einer strengen Prüfung durch die Zensoren unterziehen und erhielten, gut verteilt, Lob und Tadel.

Mit einer Popularitätsquote von 57 Prozent hat Giscard d'Estaing den Begründer der Fünften Republik, General de Gaulle, auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit eingeholt. Trotz drohender Arbeitslosigkeit — offiziell werden 700.000 Personen ohne Arbeit registriert, die am Laufe des Sommers auf beinahe eine Million ansteigen werden — vermochte der Staatspräsident diese augenblicklichen Schwierigkeiten von seiner eigenen Person zu trennen. Auch Chirac kann sich erhöhter Publikumsgunst erfreuen, obwohl seine Prognosen hinsichtlich einer Eindämmung der Inflation nicht eingetroffen sind. 1975 dürfte Frankreich mit einer Inflationsrate zu kämpfen haben, die wesentlich über zehn Prozent liegt. Die beiden genannten Handikaps, Arbeitslosigkeit und Inflation konnten bis jetzt die Mehrheit der Nation nicht davon überzeugen, daß die Alternative zur liberalen Regierung die Bildung einer Volksfront wäre. Die Zerklüftung im linken Lager, charakterisiert durch ständige Angriffe der Kommunisten auf die sozialistische Partei, hebt sich nicht vorteilhaft vom Zusammenhalt der Majorität ab. Die Regierung zeigte eine überraschende Geschlossenheit. Schwerwiegende persönliche oder sachliche Konflikte wurden vermieden. Selbst zwischen Ministerpräsident Chirac und Staatsminister Poniatowski pendelte sich ein Modus vivendi der Zusammenarbeit ein.

Gemeinsam mit anderen politischen Beobachtern hatten wir geglaubt, der frühere Generalsekretär der Unabhängigen Republikaner werde eine breite Front aus all jenen Gruppen und Parteien sammeln, die sich zur politischen Mitte bekennen.

Als er sich zum Präsidenten der Partei küren ließ, konnte man dies als eine Art Signal annehmen.. Aber es ist ihm nicht gelungen, das Zentrum Lecanuets und die Reformatoren Ser-van-Schreibers zu einer Fusion zu bewegen, oder eine privilegierte Koalition herzustellen. Da die Unabhängigen Republikaner keineswegs genügend Anziehungskraft ausstrahlten, um zum harten Kern der projektierten großen konservativ-liberalen Partei werden zu können, entschloß sich Poniatowski, den längeren Weg über die Bildung politischer Clubs zu gehen. Die Linke hatte in den sechziger Jahren, als sie durch den Gaullismus in die Defensive gedrängt wurde und ihre Parteien an Prestige verloren, ebenfalls diese Methode gewählt. Sie bildete lose

Verbände in der Form von Clubs, in denen sich höhere Funktionäre, Gewerkschaftsführer, Intellektuelle aller Art und Journalisten trafen, die unabhängig von politischen Verpflichtungen und Verantwortung Probleme verschiedenster Natur studierten und Lösungen vorschlugen. Es sei nicht vergessen, daß an der Basis der Erneuerung der Sozialistischen Partei diese Organisationen standen, die das geistige Rüstzeug für Mitterand und sein Team formulierten. Die Anhänger Giscards, wenig geneigt, sich in eine starre Parteidisziplin einzufügen, gründeten 1968 26 Clubs mit ungefähr 2000 Mitgliedern. Im Februar 1975 waren es ihrer bereits 123 mit 30.000 und gegenwärtig zählt man 150 solcher Zusammenschlüsse, in denen 50.000 Personen versammelt sind. Unter dem gemeinsamen Nenner „Perspektiven und Wirklichkeit“ wurde kürzlich der 8. Kongreß in Paris einberufen. Der rührige Präsident und Finanzminister Fourcade konnte bei dieser Gelegenheit Fran-coise Giroud, Vizepräsidentin der radikalsozialistischen Partei, und den Chef des Zentrums, Lecanuet, begrüßen.

So scheint der Weg gefunden zu sein, um eine Brücke von der Partei der Unabhängigen Republikaner

zu jenen anderen Bestandteilen der Majorität zu schlagen, die nicht der gaullistischen Sammelbewegung angehören. Die UDR, unter der dynamischen Führung Chiracs, ist neuerlich ein Faktor ersten Ranges der Innenpolitik geworden. Die Parteiführung, verjüngt und gewählt, drängte die ehrwürdigen „Barone“ fast vollkommen in den Hintergrund. Damit bieten die Gaullisten ein solches Image, daß sich monatlich 3000 Personen in die Partei einschreiben lassen. Die fälschlich totgesagte UDR kann daher von Giscard d'Estaing verlangen, daß ihre grundsätzlichen Optionen, besonders in der Außenpolitik, weitgehend respektiert werden. Während die Clubs Poniatowskis vor allem die technischen Kader der Nation ansprechen, ist die UDR weiterhin an der Basis mit sämtlichen Schichten des Volkes auf das Engste verbunden. Sie wird im Wahlkampf 1978 die Hauptlast zu tragen haben. Bemerkenswert erscheint der Umstand, daß die UDR als Partei nicht nur im Inneren reorganisiert wurde, sondern daß sie auch ihre internationale Position aufpoliert hat. So wurde eine enge Zusammenarbeit mit der deutschen CDU in die Wege geleitet und die christlichen Demokraten jenseits des Rheins wurden quasi als Bruderpartei anerkannt. Dieser Vorgang wurde von den internationalen Kommentatoren viel zu wenig beachtet. Er eröffnet Perspektiven der Parteienzusammenarbeit über Grenzen hinweg, die vor einigen Monaten noch kaum auf der Tagesordnung standen. Ein Niederschlag dieser Kooperation im europäischen Parlament ist durchaus zu erwarten.

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