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Politik mit Geiseln?

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Albert Schneider, Beirut, über mögliche Verhandlungen zwischen Jerusalem und Damaskus

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Albert Schneider, Beirut, über mögliche Verhandlungen zwischen Jerusalem und Damaskus

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Gerüchte über schwerwiegende Auseinandersetzungen in der Damaszener Führung über die künftige Haltung im Nahost-Konflikt, bevorstehende Verhandlungen des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko mit Staatspräsident General Hafis al-Assad und einen neuen Vermittlungsversuch von US-Staatssekretär Henry Kissinger kennzeichnen gegenwärtig das Ringen hinter den diplomatischen Kulissen um das Zustandekommen eines syrisch-israelischen Truppenentflechtungsabkommens und die Teilnahme Syriens an der zweiten Runde der Genfer Friedensverhandlungen. Dieses Tauziehen drängte ein menschliches Problem ganz in den Hintergrund: Die Frage nach dem Schicksal der in syrischem Gewahrsam befindlichen israelisahen Kriegsgefangenen. Beiruter Syrienkenner sind sich zwar darüber einig, daß die Damaszener Behörden — etwa nach nordvietnamesischem Vorbild — mit den Kriegsgefangenen Geiselpolitik betreiben. Syrien, dessen Haupt-stadtbewohner sich seit drei Monaten auf Sichtweite mit der feindlichen Armee konfrontiert sehen, hat kein anderes Faustpfand, mit dem es die Räumung der besetzten Golan-höhen erzwingen könnte. Die Frage, warum das syrische Oberkommando bis jetzt weder amtliche Gefangenenzahlen veröffentlichte noch dem internationalen Roten Kreuz eine Namensliste übergab, können jedoch auch die Experten nicht beantworten.

Am 28. November des vorigen Jahres behauptete eine amtliche israelische Note an das Genfer Rotkreuzkomitee, die Syrer hätten achtundzwanzig Gefangene ermordet. Am 17. Dezember erklärte die israelisehe Delegation bei den Genfer Verhandlungen, man wisse von der Ermordung von 42 Gefangenen, am 18. Dezember berichtete die Genfer Tageszeitung „Journal de Geneve“, die Syrer hätten 60 Gefangene ermordet. Diese Eskalation erreichte ihren Höhepunkt am 19. Dezember mit einer Nachricht von „Agence France-Press“ über die Ermordung aller rund 130 Gefangenen. Auf arabischer Seite hält man es zwar nicht für ganz ausgeschlossen, daß syrische oder irakische oder marokkanische Soldaten, die auf syrischer Seite kämpften, im ersten Zorn ihr Mütchen an israelischen Gefangenen gekühlt hätten, wobei einige von ihnen mißhandelt oder sogar getötet wor-sen sein könnten. Systematische Gefangenenmorde klassifiziert man allerdings als Greuelpropaganda.

Warum aber weigert sich Damaskus dennoch so hartnäckig, Aufschluß über das Schicksal dieser Gefangenen zu geben? Die Antwort liegt, wie man in Beirut zu wissen glaubt,-auf dem weiten Feld der Militärspionage. Wie die Israelis die Wracks abgeschossener sowjetischer Kampfflugzeuge und Raketenabschußbasen sowjetischer Herkunft abtransportiert hätten, um eigene und amerikanische Experten mit den modernen Waffensystemen des Gegners vertraut zu machen, hätten sich auch die Syrer der umfangreichen Kenntnisse der in ihre Hände gefallenen Offiziere und Mannschaften bedient, um möglichst viele militärische Geheimnisse der Gegenseite auszuforschen. Gewisse Gerüchte deuten darauf hin, daß einige hochkarätige Experten unter den Israelis sogar in die Sowjetunion geflogen und dort verhört wurden.

Zu dieser Vermutung gesellt sich der Verdacht, daß die an der syrischen Front kämpfenden irakischen Einheiten die in ihre Hände gefallenen israelischen Gefangenen mit in ihre Heimat verschleppt haben. Sollte dieser Verdacht zutreffen, besteht für diese Israelis nur wenig Hoffnung. Der Irak gehörte offiziell nicht zu den kriegführenden Staaten und ist in absehbarer Zeit wohl kaum bereit zu einer Übereinkunft mit Israel. Und das dortige Militärregime macht, wie wir aus zahllosen öffentlichen Hinrichtungen wissen, kurzen Prozeß.

Gewiß handelt es sich bei diesen Überlegungen um Spekulationen, Vermutungen und vage Verdachtsmomente. Doch auch auf arabischer Seite beklagt man ihr Aufkommen. Der israelische Teilrückzug vom Westufer des Suezkanals hat den guten Willen und die Verhandlungsbereitschaft Israels sichtbar gemacht. Sogar Skeptiker auf arabischer Seite halten jetzt eine friedliche Regelung des Konflikts für nicht mehr ausgeschlossen. Sie wissen aber, daß sie für beide Seiten nur erreichbar und dauerhaft sein kann, wenn Syrien sich ihr anschließt. Besonders in Kairo beklagt man daher die syrische Indifferenz in der Gefangenenfrage, die das Damaszener Regime unnötigerweise ins Zwielicht bringt und als Verhandlungspartner nicht gerade empfiehlt.

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