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Politik mit Weitblick

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Der bekannte französische Sozialist Pierre-Joseph Proudhon schrieb schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts: „Wir sollten uns nicht länger täuschen, Europas ist des Denkens und der Ordnung müde; es tritt in ein Zeitalter der brutalen Gewalt und Verachtung von Prinzipien ein."

Einige Ereignisse aus jüngster Vergangenheit haben mich an diese Feststellung erinnert, etwa die Affäre um die Botschaftsbesetzung in Bogota. Hier wurden Verbrecher als gleichwertige Verhandlungspartner akzeptiert. Ja mehr noch, der österreichische Regierungschef verstieg sich sogar dazu, für die „großartige", leider nur teilweise Beendigung eines flagranten Rechtsbruchs förmlich Dank zu sagen.

Heißt das nicht, die Prinzipienlosigkeit etwas weit treiben? Wird da nicht um eines kurzfristigen Vorteils willen die langfristige Glaubwürdigkeit geopfert? Dieselbe Feststellung ließe sich im Hinblick auf die Anerkennung der PLO treffen. Hier wird anscheinend, um kurzfristig die Ölversorgung Österreichs zu sichern, das langfristig erprobte System internationaler Regeln aufs Spiel gesetzt.

Das Verhalten unserer Regierung bei der Botschaftsbesetzung hat auch an die Geiselnahme im Wiener OPEC-Gebäude erinnert. Damals büßte ein Polizist bei seinem Einsatz das Leben ein. Dennoch ging man den Weg des geringsten Widerstands: Freies Geleit für alle - auch für einen im österreichischen Gewahrsam befindlichen, verwundeten Terroristen.

Damals habe ich mich gefragt, ob sich der Einsatz des Polizisten. gelohnt hat. Zahlt es sich aus, das Leben für die Aufrechterhaltung von Grundsätzen einzusetzen, die von der Regierung bei etwas stärkerem Druck umgehend gebrochen werden? War nicht der Handschlag des damaligen Innenministers, Otto Rösch, mit einem der Terroristen eine geradezu harmlose Vorstufe für den Dankbrief Bruno Kreiskys?

Prinzipienlosigkeit und Erpreß-barkeit um eines kurzfristigen Vorteils willen bewies unlängst auch der amerikanische Präsident Jimmy Carter. Unter dem Druck der jüdischen Wählerlobby distanzierte er sich vom Votum seines UN-Botschafters, der die israelische Siedlungspolitik irn Sicherheitsrat verurteilt hatte. Der kurzfristige Vorteil, keine jüdischen Stimmen zu verlieren, ließ den amerikanischen Präsidenten langfristig seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.

Mir ist klar, daß ich mich hier auf schlüpfrigem Boden bewege und mir leicht den Ruf einhandeln kann, Unmenschlichkeit im Einzelfall zwecks Aufrechterhaltung von blutleeren Prinzipien zu predigen. Diese Haltung kennzeichnet alle menschenverachtenden Fanatiker und ich bin mir dessen bewußt, daß wir uns vor diesem Extrem hüten müssen. Aber in den modernen westlichen Demokratien sind wir sicherlich nicht primär von dieser Fehlhaltung gefährdet.

Im Gegenteil: Was uns heute bedroht, das ist die erschreckende Prinzipienlosigkeit, der reine Pragmatismus, die Tagespolitik, die in keiner längerfristigen Sicht von notwendiger politischer Strategie verankert ist. Das ist der Kult der Technokratie, die sich von der Machbarkeit der Dinge in ihrem Vorgehen eher leiten läßt als von ethischen Grundsätzen.

Kurzum, ich bin davon überzeugt, daß wir in der Ausrichtung unseres Handelns heute allzu einseitig geworden sind: Das scheinbar Dringende kommt vor dem Wichtigen, nicht zuletzt deswegen, weil wir häufig gar nicht darüber nachgedacht haben, was eigentüch wichtig wäre; die auf lange Sicht vorteilhafte Entscheidung (etwa im Bereich der Energie- und Umweltschutzpolitik) wird deswegen nicht gefällt, weil "damit kurzfristig Härten verbunden sind; der kurzfristig so angenehmen Politik des Wahlzuckerls wird der Vorrang eingeräumt.

In den letzten Jahren bekommen wir nun die Rechnung für unsere Kurzsichtigkeit präsentiert: Die Weltwirtschaft steckt in einer Dauerkrise, Umwelt- und Energieprobleme zeugen von der grundsätzlichen Fehlorientierung unserer Gesellschaft. Die Orientierungskrise wird an vielen anderen Symptomen deutlich sichtbar: Ratlosigkeit in der Nahostpolitik, in de Beziehung zum Ostblock, Unklarheit in der Verteidigungsdoktrin, Mißachtung der Entwicklungsländerproblematik ...

Kurzum: Es fehlt an langfristig gültigen Konzepten. Politik wird zu einem ununterbrochenen Krisenmanagement. Wir erschöpfen unsere Kräfte im Reagieren. Wo aber bleibt das umfassende Konzept, das langfristige Perspektiven entwickelt?

Hier offenbart sich eine der Schwächen unseres politischen Systems. Mit seinem Wahlrhythmus von rund vier Jahren zwingt es die Politiker geradezu zur Kurzsichtigkeit. Wer seinen Erfolg so kurzfristig nachweisen muß, wird sein Augenmerk auf Probleme lenken, die bis zur nächsten Wahl Erfolge bringen. Sein Zeithorizont ist beschränkt.

Bedenkt man zusätzlich, daß wir mit der publizistischen Aufwertung von Regionalwahlen praktisch in einem permenenten Wahlkampf leben, so wird offenkundig, daß die Politiker vom System dazu verführt werden, kurzfristige und werbewirksame Mode- und Gefälligkeitspolitik zu betreiben.

Wäre es da nicht an der Zeit, über unser politisches System nachzudenken? Wir brauchen politische Institutionen, die so konzipiert sind, daß sie die langfristigen Anliegen der Bevölkerung wahrnehmen. In den konstitutionellen Monarchien standen sich zwei Prinzipien gegenüber: das monarchische mit eher langfristiger Zielsetzung und das parlamentarische mit eher kurzfristiger Ausrichtung.

Sicher werden wir nicht zu dieser Regierungsform zurückkehren. Aber wir könnten von ihr lernen: Es gilt ein Gegengewicht für den heute überwiegenden kurzfristigen Stil zu entwickeln: Instanzen, die sich nur in längeren Zeitintervallen legitimieren müssen. Der französische Präsident z. B. - mit relativ vielen Kompetenzen ausgestattet - muß sich nur alle sieben Jahre einer Wahl stellen. Er kann auf längere Sicht disponieren.

Unser heutiges politisches System ist älter als ein halbes Jahrhundert. Seit seiner Konzeption hat sich Entscheidendes geändert. Wäre es nicht an der Zeit, zu fragen, ob es den heutigen Gegebenheiten noch gerecht wird?

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