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Digital In Arbeit

Politisch oder sozial?

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Die schwerste Krise, welche das Regime Giscard d’Estaing bisher zu bestehen hatte, zeigt manche Ähnlichkeit mit den Ereignissen vom Mai 1968.

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Die schwerste Krise, welche das Regime Giscard d’Estaing bisher zu bestehen hatte, zeigt manche Ähnlichkeit mit den Ereignissen vom Mai 1968.

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Schon das Straßenbild von Paris weckt Erinnerungen. Die Männer der Müllabfuhr, meistens Farbige, haben die Arbeit niedergelegt. Die prächtigen Straßen der Metropole verwandeln sich wieder einmal in gewaltige, unappetitlich riechende Misthaufen. Die Bewohner scheinen von einem Rausch erfaßt worden zu sein. An die Stelle der Arbeit tritt der Aufmarsch. Es waren wohl nicht die 700.000 des 13. Mai 1968, die sich am 19. November 1974 zwischen den Plätzen Republique und Bastille versammelt hatten, aber an die 200.000 mögen es schon gewesen sein, ln

Sprechchören forderten sie die Gattin des Staatspräsidenten, Anne-, Aymone, auf, «ine Arbeit als Telephonfräulein zu übernehmen.

Der Gegensatz der Generationen war ebenfalls deutlich sichtbar. Die älteren Gewerkschaftsfunktionäre drängten auf Disziplin und Ordnung, während die 18-20jährigen, seit kurzem durch Gesetz großjährig erklärt, einen pittoresken Jahrmarkt entfesselten. Allerdings haben sich diesmal die Schüler und Studenten, welche im Mai 1968 den ersten Funken zündeten, der Sozialbewegung dieses Oktober-Novembers nichts angeschlossen.

Die große Arbeitsniederlegung begann mit einem spontanen Akt jugendlicher Arbeiter in einer zentralen Postverteilerstelle. Sie war in keiner Weise von den Gewerkschaften geplant und vorbereitet. Auch die größte Sozialkrise der V. Republik war von jugendlichen Arbeitern der Renaultwerke ausgelöst worden. Und auch damals entschlossen sich diie Gewerkschaften nur zögernd, diesen Streiks einen — wenn man so sagen darf — legalen Rahmen zu leihen.

Die Postangestellten hatten Mitte Oktober von ihrer (nach Ansicht des zuständigen Ministers) „idiotischen“ Arbeit genug. Sie illustrieren in vorzüglicher Weise die Schwächen unserer Organisation, der Konsumgesellschaft. Durch die Mechanisierung der Arbeit, kann diese die jungen Menschen in keiner Weise mehr befriedigen. Diese hocken also Nacht für Nacht in unpersönlichen Sälen, wo das Aussortieren der Briefe und Pakete zur quälenden Routine wird. Die zuständigen Behörden wußten nachweisbar von der Malaise in diesen Zentralen, die das Herz des Postverkehrs sind. Es ist aber niemandem eingefallen, Reformpläne auszuarbeiten und sich Gedanken darüber zu machen, wie die Post des Jahres 2000 aussehen soll.

Hier können also ebenfalls Analogien zum Mai 1968 entdeckt werden. Jahrelang sprach man von den notwendigen Veränderungen in den Strukturen der Universitäten, die noch aus den glorreichen Zeiten Napoleons stammten. Erst die Studentenrevolte zwang den späteren Unterrichtsminister Edgar Faure, eine umfassende Gesetzgebung zur Mo-

demisierung der Hochschulen dem Parlament vorzulegen.

Niemand kann bestreiten, daß die beiden größten Gewerkschaftszentralen immer von der Basis gezwungen wurden, die Streikwelle in eine nationale Angelegenheit zu verwandeln. Die Situation ist für einen Ausländer kaum verständlich, wenn er nicht die gegenwärtige Organisation des französischen Gewerkschaftswesens in Betracht zieht. Die beiden führenden Zentralen CGT und CFDT sind überaus politisiert und keineswegs nur bereit, wie. in den deutschsprachigen Ländern, für Lohnforderungen, Arbeitsbedingungen und Vollbeschäftigung einzutreten.

Der Generalsekretär der CGT, Georges Sėguy, ist ein einflußreiches Mitglied des politischen Büros der kommunistischen Partei. Sein Kollege Edmond Maire von der OGDT verkündete offen, er wünsche die Einführung einer sozialistischen Ordnung, auf der Basis von einer Selbstverwaltung der Betriebe und der lokalen Kollektivitäten. Die CFDT war früher eine christliche Gewerkschaft. Sie hat sich jedoch in den Jahren nach 1960 von der Kirche getrennt und geriet immer mehr in ein linkes Fahrwasser. In ihrer Entwicklung spiegelt sich am besten die Mutierung des französischen Katholizismus wieder. Seit kurzem proklamiert sie sich als das dritte Element der erneuerten sozialistischen Partei. Obwohl weiterhin beachtliche ideologische Gegensätze gegenüber dem Kommunismus bestehen, verläuft die Zusammenarbeit mit der CGT mehr oder weniger reibungslos. In der CFDT haben sich allerdings zahlreiche linksextremistische Kräfte aus dem trotzkistischen und anarchistischen Lager angesiedelt. Diese orientieren cĮie Aktionen ihrer Gewerkschaft und geben ihnen etwas Schillerndes, Unruhiges und Utopisches.

Die CGT hat viel weniger als die CFDT das Generationsproblem gelöst. Obwohl sie sich als Instrument der kommunistischen Partei fühlt, hat sie nie ganz ihre Angst davor verbergen können, am linken Flügel überrundet zu werden. Die Dynamik der exchristlichen Kollegen zwingt sie nur zu oft, ihren Willen zur Ordnung, ihre Verpflichtung, staatliche und soziale Verantwortung zu tragen, auf dem Altar des.sozialistischen Einheitsgedanken zu opfern. Die Kommunisten pochen monoton auf das gemeinsame Programm und preisen die aus wahltaktischen Gründen entstandene Linke Union als ein wahres Tabu. Diese, gebildet aus nichtmarxistischen wie aus marxistisch-leninistischen Kräften, ist keineswegs so kohärent wie es die Sprecher der beiden linken Großparteien darstellen. Unter der Decke tobt ein hartnäckiger Konkurrenzkampf um die Gunst der Wähler. Die beiden Gewerkschaftszentralen sind daher eine Art Seismograph, auf dem man den jeweiligen Stand der Beziehungen zwischen Sozialisten und Kommunisten ablesen kann.

Die soziale Krise, die sich dm Spätherbst entwickelte, weist sowohl wirtschaftliche wie politische Merkmale auf. Sieht man von der spontanen, nicht bestellten Entfesselung des Konfliktes ab, muß man der Regierung glauben, daß es die Linke Union und ihre Gewerkschaften auf eine Kraftprobe ankommen ließen. Sozialisten und Kommunisten vertreten die Auffassung, ein liberales „neokapitalistisches“ System sei nicht mehr in der Lage, die großen Probleme unseres Jahrzehntes, also in erster Linie Energieversorgung und Inflation, zu lösen. Nur Planwirtschaft, basierend auf einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, könne den arbeitenden Menschen die Kaufkraft sichern, die Arbeitsplätze bewahren und einen definitiven sozialen Frieden gewährleisten.

Der Poststreik, wie andere zahlreiche soziale Konflikte an der Peripherie, bot daher den gegebenen Anlaß, die Widerstandskraft der Re gierung, der Unternehmerverbände und der gegenwärtig herrschenden bürgerlichen Mitte, erstmals zu testen. Aber spielt man hier nicht mit dem Feuer?

Der langandauernde Poststreik bedrohte zahlreiche Mittel- und Kleinbetriebe in ihrer Substanz. Die teilweise Desorganisierung und Lähmung öffentlicher Dienstleistungsbetriebe wirft gefährliche Schatten auf die industrielle Expansion. Einsichtige Gewerkschaftsführer, aus dem Raum der kleineren Arbeitnehmer- Organisationen, warnen eindringlich vor der Politisierung der Streikwellen. Die ursprünglichen, teilweise berechtigten Forderungen der Festangestellten rücken immer weiter in den Hintergrund. Die Gewerkschaften fordern nicht mehr und nicht weniger als die restlose Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Kabinetts Chirac. Die Drahtzieher im Hintergrund warten auf erzwungene Neuwahlen, die im gegenwärtigen politischen Klima sicherlich mit einem Sieg der Linksparteien enden würden. Um dieses Ziel zu erreichen, werden sie voraussichtlich versuchen, in Zukunft weitere Sektoren des staatlichen Lebens zu lähmen. Der Generalsekretär der gemäßigten Gewerkschaft FO befürchtet nur, daß aus dem Schmelztiegel kommender Krisen ein autoritäres Regime mit faschistischen oder kommunistischen Zügen entstehen könnte. Es ist daher überaus gefährlich, soziale Forderungen, die nur zu oft berechtigt sind, politischen Plänen unterzuordnen.

Der Leidtragende ist auf alle Fälle der berühmte „Kleine Mann“, dem man so gerne Glück, Sicherheit und Frieden sichern möchte, dem man jedoch in Wirklichkeit ein Chaos bereitet.

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