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Politische Anstalt

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„Gebt es der Stadt!“ stand — frei übersetzt — auf dem Programm. Nachdem die Schauspieler einige Zeit auf der Bühne das Stockholmer Verkehrskonzept kritisiert hatten, verluden sie das Publikum in einen Autobus und fuhren eine Stunde kreuz und quer durch Stockholm. Nach dem „Lokalaugenschein“ wurde im Theater weiterdiskutiert. Stockholms Gemeinderäte haben die Darsteller dieses kleinen Theaters fürchten gelernt. Denn diese sitzen zeitweise täglich auf den Zuschauerplätzen des Stadtparlaments; oft wird, was der Gemeinderat am Vormittag beschließt, noch am Abend desselben Tages im Theater dem öffentlichen Mißfallen preisgegeben. Busfahrten finden allerdings nicht mehr statt: Der Saal wurde vergrößert, ini Bus wäre nicht mehr genug Platz.

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„Gebt es der Stadt!“ stand — frei übersetzt — auf dem Programm. Nachdem die Schauspieler einige Zeit auf der Bühne das Stockholmer Verkehrskonzept kritisiert hatten, verluden sie das Publikum in einen Autobus und fuhren eine Stunde kreuz und quer durch Stockholm. Nach dem „Lokalaugenschein“ wurde im Theater weiterdiskutiert. Stockholms Gemeinderäte haben die Darsteller dieses kleinen Theaters fürchten gelernt. Denn diese sitzen zeitweise täglich auf den Zuschauerplätzen des Stadtparlaments; oft wird, was der Gemeinderat am Vormittag beschließt, noch am Abend desselben Tages im Theater dem öffentlichen Mißfallen preisgegeben. Busfahrten finden allerdings nicht mehr statt: Der Saal wurde vergrößert, ini Bus wäre nicht mehr genug Platz.

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Das Stadsteatern, seit der Übernahme durch Frau Direktor Bandler nicht nur im eigenen Selbstverständnis „Skandinaviens interessanteste Bühne“, steht am einen Ende des schwedischen Theaterspektrums für ein Maximum an — hier interessanterweise funktionierender — innerbetrieblicher Demokratie, an formaler und politischer Progressi-vität.

Am anderen Ende wäre Dramaten anzusiedeln, als Symbol offiziellen, am Hergebrachten festhaltenden, wenn man will musealen Theaters, Schwedens Burgtheater. Einiges, was man als Gast aus Mitteleuropa zunächst leicht für Eigentümlichkeiten des Dramatenspielstils hält, wenn man zufällig zuerst Dramaten besucht, erweist sich bei weiteren Theatergängen schnell als dem schwedischen Darstellungsstil offenbar generell eigen: Deutliches bis überdeutliches Ausspielen, besondere Betonung von Mimik und Maske (unterstützt durch außerordentliche maskenbildnerische Perfektion), dabei ein sehr starkes, im besten Sinne komödiantisches Element und eine solide handwerkliche Ausbildung als Basis für alles andere.

Ein früher Strindberg, der „Mäster Olof“, im Dramaten: Bror Marklund inszenierte unter einem kubischen, wie ein Alb über der Szene lastenden Klotz ein Superding orgiastisch-kulinarischen Theaters. Schon im ersten Akt tauchen Personen auf, die der Strindberg-Kenner nicht kennt: Emil Scherings Übersetzung aus dem Jahre 1916, die Standardausgabe in deutscher Sprache, ist der älteren von Palme zwar sprachlich weit überlegen, vereinigt aber beispielsweise die Bischöfe Brask und Som-mar in der Person des Brask. Gelesen wirkt die Szene dadurch straffer, man muß das Stück wohl in Schweden sehen (anderswo wird es ohnehin nicht mehr gespielt) um zu erfassen, daß in der Aufteilung dieses kurzen Textes auf zwei Figuren die Chance zu einer in ihrer Gehässigkeit schon wieder faszinierenden, ohne Rücksicht auf Verluste theaterwirksamen, konsequent allerdings nur in protestantischen Landen realisierbaren optischen Karikatur liegt, die dem des Schwedischen nicht mächtigen Theaterbesucher pantomimische Qualitäten offenbart: Der wuchtige, schwer in seinem Stuhl lastende Hans Brask, dessen Darsteller Georg Rydeberg alle in dieser Figur als Möglichkeit angelegte Bösartigkeit in geradezu artistisch herabgezogenen Mundwinkeln konzentriert, neben ihm der in ein lan-

Vivica Bandler: Führung ohne Konflikte ges, grüngeblümtes Schlauchkleid gehüllte, schlangenhaft sich windende, mehlig bleiche Möns Sommar (Lars Göran Carlson), der seine ganze Schernheiligkeit in das Spiel der Hände und die Abknickungen seiner Halswirbelsäule verlegt — die Personen dieses Stückes, allen voran der ebenso schöne wie begabte Thommy Berggren, den der amerikanische Film, gäbe es ihn noch, sofort entdeckt hätte, in der Titelrolle, sind von Typen umgeben.

Typen, deren Anlage deutlicher als alle späteren Stücke Strindbergs dessen außerordentliches Gespür für die handfesten Möglichkeiten und

Notwendigkeiten der Bühne verrät. Strindberg als Theaterpraktiker auf Anhieb. Der „Mäster Olof“ ist ein Reformationsstück, Olof selbst ein moderner Antiheld, hin- und hergerissen zwischen Erkenntnis und Loyalität, Mut und Feigheit, der sich am Ende dann doch gegen das Mär-tyrertum und für das Leben entscheidet. Strindberg stellt mit den letzten Sätzen des Stückes unmißverständlich klar, daß er ein Versagen meint.

Auch bei Frau Vivica Bandler im Stadttheater wird ein Klassiker exemplarisch realisiert, auch hier für unsere Begriffe überdeutlich ausgespielt, unter der Regie von Johan Bergensträhle in Bertolt Brechts „Den goda människan i Sezuan“ auf eine Weise, daß damit Brechts bekanntlich so schwer erfüllbarer Forderung an die Darsteller, ihr Spiel illusionshemmend zu verfremden, für den des schwedischen Theaters Ungewohnten auf überraschende Weise entsprochen wird. Für jene, denen dieser Darstellungsstil vertraut ist, sieht es sicher anders aus. Die schwedische Inszenierung des „guten Menschen“ ist schlechthin mustergültig, der Verzicht auf die Originalmusik von Dessau zugunsten einer jazzigen, wesentlich illustrativeren Eigenproduktion (Bengt Ernryd) kann als Beweis dafür gewertet werden, daß Verfremdung nicht angestrebt wurde.

Hauptpfeiler der Aufführung ist Lena Granhagen in der Hauptrolle, eine ganz exzellente Schauspielerin, deren Leistung in der Doppelrolle Shen Te/Shui Ta sich gleichwertig neben dem seinerzeitigen Glanzstück von Jutta Schwarz im Wiener Volkstheater sehen lassen kann. Die Randfiguren sind zum Teil stark typisiert, zum Teil karikaturistisch überzeichnet, allen voran Shu Fu (Olof Bergström), der einer zeitgenössischen Nestroy-Aufführung entsprungen sein könnte. Das schwedische Theater scheint von einer starken Volksnähe geprägt, weniger als in Mitteleuropa durch eine Tradition als bürgerliches Theater, sprich Theater einer Oberschicht, gehandikapt und breiten Schichten entfremdet.

Auch der „gute Mensch“ brilliert maskenbildnerisch, auch hier sind die Masken stark auf Realität angelegt, ausgenommen die Natürlichkeit der Shen Te und die artifizielle, sehr Brecht-gemäße Maskierung des Herrn Shui Ta. Sonst wäre kaum einer der Darsteller nach dem Abschminken wiedererkennbar, was das Programmheft durch Gegenüberstellung der Photos aller Darsteller mit und ohne Maske dokumentiert.

Trotz eines gewaltigen Publikumserfolges (innerhalb einer Spielzeit 20 Inszenierungen, davon drei mehr als hundertmal gespielt) können vom Stadttheater nur rund 14 Prozent der Kosten eingespielt werden. Das liegt nicht zuletzt an den äußerst sozialen Preisen. Publikumserfolge werden in Schweden vor allem als Nachweis der Existenzberechtigung und damit der Subventionswürdigkeit betrachtet. Über die schwedische Literaturförderung wird demnächst ausführlich referiert werden; auf die schwedischen Theater wird kein Druck ausgeübt, ihr Einspielergebnis auf Kosten des Gebotenen zu erhöhen. Anders wären 20 Premieren in einer Spielzeit nicht denkbar. Stockholms Stadttheater stehen 45 Ensemblemitglieder, drei Säle und ein Budget von mehr als 20 Millionen Kronen zur Verfügung, wozu die Stadt 13 Millionen und der Staat 4,8 Millionen Kronen beisteuert.

Die Tatsache, daß die Stadt den Großteil der finanziellen Lasten trägt, beschneidet in keiner Weise die Möglichkeiten des Stadsteatern, scharfe kommunalpolitische Kritik zu üben. Es ist zweifellos ein linkes Theater, aber ohne jede dogmatische oder thematische Einengung. Es hält den Kontakt zu einem breiten, heterogenen Publikum, das mit Schulvorstellungen auf hohem künstlerischem Niveau (zuletzt „Die Wildschwäne“ nach Andersen) früh an das Theater gewöhnt, und das heißt für das Theater gewonnen wird.

Erfolgsinszenierungen wie der „gute Mensch“ oder auch „fiddler on the roof“ (bei uns „Anatevka“) werden im großen 800-Personen-Saal, kritischere Dinge in Räumen mit 200 oder 115 Pätzen gespielt, so beispielsweise „Mister President“, ein von einem Autorenkollektiv recherchiertes und geschriebenes Dokumentationsstück über die Frage, ob Kennedy „der Held war, für den ihn viele halten“.

Auch die kommunalpolitischen Attacken finden vor einem kleineren, aber aktiven Publikum statt, das mit Hilfe einer Abstimmungsanlage (bei jedem Platz ein Druckknopf) zahlreiche ihm im Laufe des Abends gestellte Fragen mit Ja oder Nein beantwortet.

Dabei erweist sich zweierlei. Erstens in einer Stadt, die es ohnehin in vielen Dingen viel besser hat als die meisten mitteleuropäischen Großstädte, das Unbehagen des Großstädters an seiner Umgebung — vor allem an dem, was ihm anonyme Planer als Umgebung verordnen. Vieles, was in Stockholms Klara-teatern (einer Dependence des stadsteatern, wo diese Vorstellungen stattfinden) erörtert und kritisiert wird, gilt auch für Wien; Die Inhumanität der Satellitenstädte, die Gedankenlosigkeit, mit der Bäume gefällt werden, die ungünstige

Altersstruktur in neuen Wohnvierteln (die durch die Homogenität ihrer Einwohnerschaft in einigen Jahrzehnten trostlose Altersstädte sein werden), die Unvernunft mancher Verkehrsplanungen.

Es erweist sich, zweitens, das Theater als ein Medium zur Artikulierung einer Kommunalkritik, für die sich bisher nur die Zeitungen zuständig fühlten. Das Theater von Frau Bandler wuchs, durch den Erfolg eines Experimentes, gewissermaßen zwanglos in eine neue Rolle als politische Anstalt und es hat der Presse als oberstes Kontrollorgan der westlichen Industriegesellschaft einiges voraus, wie sich hier zeigt — vor allem den Wegfall des Zwanges, Unbehagen nur dort aufzugreifen, wo dies ökonomischen Erfolg verspricht, die Verminderung der Gefahr, das Wort, das man den Leuten aus dem Mund nimmt, sofort auch umzudrehen, und auch das vom Stadsteatern forcierte Dialogverhältnis zwischen Publikum und Bühne. Stünde zu hoffen, daß man einen Weg findet, das Publikum noch etwas mehr sagen zu lassen als Ja oder Nein — obwohl auch dies schon viel bedeutet. Zeitungsleser können nicht einmal das sagen. Das Experiment Im Klarateatern wird fortgesetzt. Man sollte es nicht nur aufmerksam verfolgen, sondern vor allem nachahmen. Möglicherweise ist Frau Bandler unterwegs zu jenen neuen Funktionen und, funktionsbedingt, Formen des Theaters, nach denen anderswo so laut, wenn auch nicht immer ebenso ehrlich, gerufen wird.

Sie selbst ist eine der interessantesten Theaterpersönlichkeiten der Gegenwart, was sie hinter einer betonten Bescheidenheit verbirgt. In Finnland mit schwedischer Muttersprache geboren, verließ Frau Bandler vor einigen Jahren das Land mit der starken, volksnahen Theatertradition, das als erste 1906 das Frauenstimmrecht einführte, um nun auch in Norwegen ein Theater zu gründen und dann nach Schweden zu gehen.

Stadsteatern, das progressivste Theater Skandinaviens, ist wahrscheinlich auch das progressivste Theater Europas — zumindest das undogmatischeste unter den progressiven. Und es ist, vorerst, vielleicht nicht nur in Skandinavien jenes Theater, in dem sich das demokratische Führungsmodell vorerst am besten bewährt.

Frau Bandler, die jede Entscheidung, auch jede Stückwahl, mit einem Repertoirekomitee berät und es fast nie zu Konflikten kommen läßt, über ihr Führungsmodell: „Es hat mich vor vielen Dummheiten bewahrt!“

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