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„Politisches Ghetto für Christen?“

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Das sogenannte „Hohe C“, das betont Christliche, letztlich dem Lehramt der katholischen Kirche Entstammende, auf das sich die christlich-sozialen Parteien Mitteleuropas und deren Nachfahren anfangs stolz, später immerhin und doch noch, beriefen, schien in den letzten Jahren in immer größere Höhen zu steigen — um letztlich konkreter Greifbarkeit gänzlich zu entschwinden.

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Das sogenannte „Hohe C“, das betont Christliche, letztlich dem Lehramt der katholischen Kirche Entstammende, auf das sich die christlich-sozialen Parteien Mitteleuropas und deren Nachfahren anfangs stolz, später immerhin und doch noch, beriefen, schien in den letzten Jahren in immer größere Höhen zu steigen — um letztlich konkreter Greifbarkeit gänzlich zu entschwinden.

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Der „Blut-und-Boden-Katholizis-mus“ fand und findet offenbar immer weniger Anhänger. Ja, selbst die Aussagen des Zweiten Vatikanums mußten „traditionellen“ Katholiken gewisse Verständnisschwierigkeiten bereiten, wenn etwa die Rede davon war, „daß die Kirche an kein politisches System gebunden ist“, daß zwischen der Tätigkeit als Glied der Kirche und als Staatsbürger sehr wohl zu unterscheiden sei, daß verschiedene Christen bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem jeweils anderen Urteil kommen könnten (was doch wohl einschließt, daß auch die Kirche nicht einfach in Ausübung ihres Lehramtes die Patentlösung servieren kann). Das Konzil verpflichtet zwar den einzelnen sehr eindringlich, an der Gestaltung der menschlichen Gemeinschaft mitzuwirken — wie die damit verbundene Einzelentscheidung allerdings ausfallen soll, ist dem Gewissen des christlichen Politikers überlassen. Schließlich wurde in Österreich auch eine nicht geringe Anzahl „Getreuer“ durch die Aussagen der Amtskirche, insbesondere über ihre Stellung zwischen „der Parteien Hader“, verwirrt — jedenfalls jene, die subtile Unterscheidungen und Zwischentöne, deren sich die Kirche seit Jahrhunderten — sehr zu ihrem Vorteil — bedient, nicht genügend beachten.

Aus all diesen Vorgängen und der nach Ansicht Vieler festzustellenden zunehmenden Liberalität und „Ent-ideologisierung“, konnte man mit gewisser Berechtigung erwarten, der Salzburger Parteitag der ÖVP werde dieses „Hohe C“ als unaktuell endlich fallen lassen — zumal sich ja auch andere politische Gruppierungen christlich zu geben bemüht waren und die ÖVP selbst mit dem Problem in den letzten Jahren kaum zu Rande zu kommen schien, sich vielmehr lieber etwas mehr der Techno-kratie näherte. Derartiger Pessimismus wurde allerdings durch das neue Grundsatzprogramm der ÖVP sehr eindeutig eines Besseren belehrt. An den endgültigen Beschlüssen zeigt sich nicht nur, daß man die Selbstinterpretation der Katholischen Kirche am Zweiten Vatikanum aufgegriffen und verstanden hat; vielmehr gelang auch der Nachweis, daß die Aussagen dieses Konzils durchaus aktuell sind und eine Partei gerade dann zukunftsorientiert sein kann, wenn sie sich den gleichen Problemen stellt — jenen nämlich, die den heutigen Menschen existentiell belasten: die zeitgenössische Psychologie (etwa V. E. Frank!) weist längst nach, daß die Krisen des Seelenlebens heute nicht mehr ungenügend bewältigter Daseinsvorsorge entspringen, noch mangelnder (insbesondere sexueller) Triebbefriedigung. Phänomene wie die Jugendverwahrlosung gerade in der Wohlstandsgesellschaft, oder die weitgehende „Frustration der Freizeit“ zwingen, die Sinnfrage des Lebens, Grundlage des traditionellen humanistischen Menschenbildes, wieder radikal zu stellen. Das neue Grundsatzprogramm der ÖVP tut dies, bei anderen politischen Gruppierungen Österreichs vermißt man derartige Horizonte leider radikal.

Was nun ist an originär und genuin christlichem Gedankengut im neuen Grundsatzprogramm der ÖVP zu finden?

„In Verfolgung ihrer eigenen Heilsabsicht vermittelt die Kirche ... Hebung der menschlichen Personswürde, Festigung des Gemeinschafts-gefüges, Erfüllung des menschlichen Schaffens mit tiefer Sinnhaftigkeit. So glaubt die Kirche viel zu einer humaneren Gestaltung der Menschenfamilie beitragen zu können („Kirche und Welt“, 40), ...erschließt sie dem Menschen gleichzeitig das Verständnis seiner eigenen Existenz“ (41). Die Kirche versteht sich offenbar selbst als sehr wesentliches Gestaltungsmoment der menschlichen Gemeinschaft — dieser Funktion hat sich die Kirche in Österreichs Vergangenheit jedenfalls eifrig und mit Erfolg gewidmet — und keinesfalls als unverbindlicher Freizeitklub, der sich mit seiner Existenzgenehmigung zufrieden gibt.

Eine durchaus adäquate Bedeutung nehmen „die Kirchen“ und vor allem das Christentum nach dem Grundsatzprogramm für die Gemeinschaft des Staates ein: sie sind unübersehbarer Gestaltungsfaktor, ohne die Eigengesetalichkeit des staatlichen Mechanismus zu beschränken (2, 5). Das Grundsatzprogramm ermuntert die Kirchen zu „freiem öffentlichem Wirken“; das „neue Selbstverständnis der Kirchen“ wird als bedeutsames gestaltendes Element der Gesellschaft im Zusammenhang mit der Dynamik des modernen Lebens ausdrücklich begrüßt. Man muß sich mit ihnen auseinandersetzen, als einer geistigen Aussage in die Zeit, als einer Bereicherung, und zwar als Diskussionspartner — nicht als Stimmenbringer. Wenigstens in der grundsätzlichen Formel scheint damit eine gemeinsame Plattform des gesellschaftsrelevanten Dialogs Kir-che(n)—ÖVP gefunden zu sein.

Das Christentum hat sich stets einer sehr diffizilen Aufgabe gewidmet: eine Synthese zu finden zwischen ausgeprägter Transzendentali-tät des Menschen — ohne Gottesbeziehung entbehrt es seiner genuinsten Aussage und Kraft — und der „irdischen“ Tätigkeit — durch die ja gerade die Ubernatur erreicht werden soll. Diese Polarität formuliert das Zweite Vatikanum aufs neue — die Verantwortung für die staatliche Gemeinschaft stützt es sogar mit sehr massivem moralischem Druck („Kirche und Welt“ 9; 43) — und ausdrücklich auch als Grundsatzprogramm. Im Konziltext heißt es: „In seiner Innerlichkeit übersteigt der Mensch die Gesamtheit der Dinge...Wenn er die Geistigkeit und Unsterblichkeit seiner Seele bejaht... (14) .... Immer suchte und fand er eine tiefere Wahrheit... Der Mensch vollzieht inmitten seiner menschlichen Geschichte ungeschmälert seine ewige Berufung“. So spricht das Grundsatzprogramm etwa vom „Per-sonalismus als Ausdruck der übernatürlichen Bestimmung des Menschen“, von Anerkenntnis des „über die materielle Existenz hinausweisenden Sinnes des Lebens“ (3, 1, 3).

Wird die eigene Vervollkommnung durch das Konzil mit moralischer Qualität ausgestattet (74) und über den materiellen Reichtum gestellt (35), so will sich die große Oppositionspartei in Zukunft den „Entfaltungsmöglichkeiten“, der „schöpferischen Erholung“ (3, 4, 5), der „Herausforderung des persönlichen Leistungswillens und der Initiative“ (3 4, 1), der „Entwicklung der Begabung“ (4, 2, 2), der „Arbeitswelt als Selbstverwirklichung“ (4, 3, 1 — und nicht mehr als Raum ökonomischer Leistung), der „Freizeit, durch die der Mensch sich frei selbst finden“ soll (4, 3, 5), widmen; Ausdrücke, die das Wort von der Lebensqualität weit über das Phrasenhafte hinausheben. Gleiches Gedankengut vom selbständig schöpferischen Menschen durchzieht auch das Kapitel über die Wirtschaft, die Kunst, die dynamische Demokratie, die Jugend.

Gerade zum Begriff der Freiheit, sonst Tummelplatz inhaltsloser politischer Phrase, gelangen in Salzburg interessante Formulierungen. Das „Freisein zur Selbstbestimmung und zur Mitbestimmung“ (3, 2, 2), das „Voraussetzung sinnerfüllter Lebensführung“ ist (3, 2, 2), als „Entschei-dungs- und Handlungsfreiheit...und Verantwortung des Menschen vor seinem Gewissen“ — das alles sind Aussagen, die man in politischen Programmen wohl schon lange vergebens gesucht hat. Inhaltlich durchziehen sie den gesamten Text, besonders ansprechend auch im Kapitel über die Jugend.

Wer könnte bezweifeln, daß hier zentrale Aussagen des Christentums überlegt angenommen werden, siehe:„Die Würde des Menschen verlangt daher, daß er in bewußter und freier Wahl handle“ („Kirche und Welt“, 17) und daß „Möglichkeiten zur Freiheitsbetätigung angeboten werden“ (75).

Die Soziallehre der katholischen Kirche beruht auf der Solidarität aus dem Ausdruck der Nächstenliebe in der Gesellschaft, und auf der Subsidiarität, welche die Allmacht eines anonymen Staatsmolochs verhindert. Beides findet sich auch in der Konsti-tutuion „Kirche und Welt“ (9; 43; 75).

Auch das Grundsatzprogramm ist stark sozial geprägt — das soziale Engagement hat seine Wurzel allerdings nicht in staatlicher Nivellierung nach unten, sondern entspringt „dem Zusammenwirken von Personen“ (3, 5, 1), das aus Verantwortungsbewußtsein der eigenen Freiheit und Würde auch die des Mitmenschen schätzt. Die „partnerschaftliche Gesellschaft“ ist bedeutend mehr als der soziale Versorgungsstaat — gerade um soviel, wie die Dimension echter Humanität ausmacht.

Der Staat des Grundsatzprogramms soll den einzelnen eben nicht zum multiplikativen Empfänger staatlich zuerkannter Vorteile werden lassen, sondern „der bloßen Konsumhaltung gegenüber der Politik entgegenwirken“, die Entfaltung und das Leistungsinteresse im Arbeitsieben stärken (3, 7, 4). Die Gesellschaft muß allerdings dort einspringen, „wo der einzelne zur Leistung nicht befähigt ist“ (3, 4, 6; vergleiche auch die Aussagen über die Rehabilitation der Körperbeschädigten und die Integration der „aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedenen“). Der Staat soll allerdings erst dort eingreifen, wo der einzelne und die kleine Gemeinschaft den Problemen nicht mehr gewachsen sind (3, 6, 2), weil nur so die Mitgestaltung aller an der Gemeinschaft gesichert erscheint.

All das ergibt ein Menschenbild, dem Aktualität und Dynamik sicher nicht abzusprechen sind. Die menschliche Person, mit Freiheit und Würde ausgestattet, ist Grundlage aller Politik. Sie kehrt als tragender Gedanke in so gut wie allen Einzelkapiteln, wie jenen über Ehe, Familie, Umwelt, Internationalität wieder. Nur im Abschnitt über die Dritte Welt ist man hinter der Aussagekraft des Vatikanischen Konzils eindeutig zurückgeblieben — leider. Insgesamt wird aber doch mit Freude ein Denkanstoß zur Kenntnis zu nehmen sein — und vielleicht auch die Verringerung der Gefahr eines politischen Ghettos für Christen.

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