7067744-1992_11_07.jpg
Digital In Arbeit

Polizei-Tratschtanten auf schmalem Grat

19451960198020002020

Die Prostituiertenmorde, deren Jack Unterweger verdächtigt wird, sind geschehen. Soviel ist gewiß. Einer, mehrere muß beziehungsweise müssen sie begangen haben. Auch das ist gewiß. Und Österreichs Justiz ist Jack Unterwegers gewiß, seine Rückführung aus den USA nur noch eine technische Frage. Damit könnte es nun sein Bewenden haben. Trotzdem wird der Fall in den Medien am Kochen gehalten.

19451960198020002020

Die Prostituiertenmorde, deren Jack Unterweger verdächtigt wird, sind geschehen. Soviel ist gewiß. Einer, mehrere muß beziehungsweise müssen sie begangen haben. Auch das ist gewiß. Und Österreichs Justiz ist Jack Unterwegers gewiß, seine Rückführung aus den USA nur noch eine technische Frage. Damit könnte es nun sein Bewenden haben. Trotzdem wird der Fall in den Medien am Kochen gehalten.

Werbung
Werbung
Werbung

Gibt es Beweise oder keine...? Ist es nicht Sache des Gerichts, darüber zu befinden? Wird da nicht ein psychologischer Krieg geführt? Ist es sinnvoll, Details, die Gegenstand unbeeinflußter Zeugenaussagen sein sollen, öffentlich zu erörtern? Wird da nicht massiv Stimmung gemacht?

Ein Voraus-Freispruch wäre kein kleineres Unding als eine Vorverurteilung. Aussagen über Unterwegers Schuld oder Unschuld sind derzeit unmöglich, und falls sie möglich sind, nicht zulässig. Jedes weitere Hin und Her mit Andeutungen, Indiskretionen, Halbinformationen gefährdet die Unabhängigkeit des Gerichtes und damit die Rechtssicherheit.

Offenbar herrscht an der Quelle der Gerüchte und Halbinformationen ein geradezu skandalöses Nichtwissen darüber, wie schmal der Grat ist, auf dem man sich da bewegt. Wenn nämlich das vorliegende Beweis-oder Indizienmaterial tatsächlich so überwältigend ist, muß ein seriöser Umgang damit, sprich: Schweigen, erst recht im Interesse derer sein, die das Material in der Hand haben. Weil nämlich solche Begleitumstände das Gewicht der Beweise schmälern. Weil jede Vorverurteilung einen Schatten auf die mögliche spätere Verurteilung wirft.

Es scheint in diesem Fall beamtete Tratschtanten gegeben zu haben oder noch zu geben. Wenn dem so ist, sollten sie als Kriminalisten gelernt haben, wie oft der vor einem Verfahren aus der Gerüchteküche aufsteigende Dampf noch den Geschworenen im Gerichtssaal die Sicht auf die Tatsachen verstellte. Sollten sie es nicht gelernt haben, wäre eine Nachschulung fällig.

Der Fall Steven Murray Truscott zum Beispiel würde sich hervorragend als Anschauungsmaterial eignen. Er ist ein klassisches Beispiel dafür, was die publizistische Bedienung der Sensationsgier anrichten kann. Truscott wurde in Ontario, Kanada, im Alter von 15 Jahren wegen Mordes an seiner Schulkollegin Lyn-ne Harper zum Tod verurteilt, begnadigt und verbrachte acht Jahre in Haft. Als die Wiederaufnahme des Verfahrens durchgesetzt werden konnte, zeigten sich dieselben Zeitungen, die vordem Prozeß (und auch während!) eine wahre Haßkampagne gegen den Fünfzehnjährigen entfesselt hatten, fassungslos über die schlampige Untersuchung und das voreingenommene Gericht. Tatsächlich war diese Voreingenommenheit ihr Werk. Weitere Ursachen dieses Justizirrtums (und vieler anderer):

Einspurige polizeiliche Ermittlungen. Nachdem die Kriminalbeamten zu der Überzeugung gelangt waren, der Mitschüler Steven müsse Lynne als letzter lebend gesehen haben, kümmerten sie sich nicht mehr um eventuelle andere Spuren.

Das Gericht übernahm von der Polizei die Überzeugung, Steven müsse der Täter sein und ließ sich von den Lücken in der Beweiskette nicht mehr davon abbringen. Es betrachtete sie bestenfalls als Schönheitsfehler.

Das führte dazu, daß Gutachten, welche diese Überzeugung ins Wanken bringen konnten, von den Geschworenen nicht zur Kenntnis genommen, beiseite geschoben oder im Lauf des wochenlangen Prozesses schlicht vergessen wurden. Der seinerseits voreingenommene, von der Schuld des Angeklagten überzeugte Vorsitzende schenkte sich sogar die Rekonstruktion des Tatablaufes -diese hätte nämlich die Annahmen der Anklage über den Haufen geworfen.

In der oberösterreichischen Kriminalgeschichte finden sich gleich zwei Schulbeispiele, die man Österreichs angehenden Detektiven keineswegs vorenthalten sollte. Der* erste Fall ereignete sich vor dem Ersten, der andere nach dem Zweiten Weltkrieg.

Karl Harter muß ein Außenseiter gewesen sein. Seine „Schuld" bestand darin, daß er „höhnisch lächelnd" an der Gruppe aufgeregter Leute vorbeiging, welche in Groß-Siegershaft auf der Straße standen und, wie es so schön im Akt heißt, die ermordete Krämerin Anna Kranzinger „bedauerten". Harters Lebenswandel war zweifelhaft, sein Verhalten provokant, mit einem Wort: er „war's natürlich". Obwohl es außer Lebenswandel, Leumund und Benehmen (etwa Erröten bei der Vernehmung, Fachausdruck: „psychologische Indizien") keinerlei Schuldbeweis gab, wurde er zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Als der wirkliche Täter gefaßt wurde, war Harter bereits in der Haft gestorben.

Josef Auer und Hubert Ranneth, Kutscher der VOEST, hatten mehr Glück: Sie lebten noch, als sich nach 15jähriger Haft ihre Unschuld herausstellte. Solange dauerte es, bis sich das Gericht zu neuen Untersuchungen entschloß und der prominente österreichische Gerichtsmediziner Breitenecker zu dem Ergebnis kam, daß man ihnen eine Tatwaffe unterschoben hatte, mit der die Tat auf keinen Fall begangen worden sein konnte. Die Polizisten, die sich in die Schuld der beiden Verdächtigen verbissen hatten, der Polizeiarzt, dessen „Geständnisspritze" das gewünschte Ergebnis zeitigte, waren wohl keine Unmenschen. Sie waren bloß so fest von der Schuld der beiden überzeugt, daß sie bei ihrem Vorgehen jede Selbstkritik verloren.

Daß Täter, hinter denen die Polizei her ist, flüchten, daß sie, wenn man sie erwischt, leugnen, sich in Widersprüche verwickeln, Alibis türken, braucht man niemandem zu erzählen. Daß Unschuldige flüchten, sich in Widersprüche verwickeln, Alibis türken, ist selbst vielen Kriminalisten unbekannt.

Daher wurde, apropos Leugnen, der grenzdebile Londoner Lastwagenfahrer Timothy John Evans nach einem Prozeß, in dem er sich in einen wahren Wust von Widersprüchen verwik-kelt hatte, wegen Mordes an seiner Frau und seinem Kind gehenkt. Es nützte ihm wenig, daß der Expolizist John Christie, der Evans' Frau und Kind und noch eine ganze Reihe anderer Frauen ermordet und in seinem Gärtchen vergraben hatte, auch baumelte. Die Umstände waren so spektakulär, der Schauplatz der Verbrechen, Rillington place 10, wurde eine solche Touristenattraktion, daß ihn die Londoner Stadtverwaltung kurzerhand umbenannte.

Apropos Flucht: In den USA wurde der zu lebenslangem Kerker verurteilte Henry Olson wegen der Zweifel an seiner Schuld gegen Kaution freigelassen - und tauchte unter. Erst als seine Unschuld endgültig bewiesen war, tauchte er wieder auf. Zwölf Zeugen beschworen sein Alibi, doch die Geschworenen glaubten ausschließlich dem Zeugen Orville Stot-ler, der Olson angeblich mit absoluter Sicherheit als den Mörder seines Sohnes wiedererkannte, obwohl der Täter beim Überfall auf eine Tankstelle in Illinois ein Taschentuch mit Augenlöchern vor dem Gesicht getragen hatte.

Wichtig zu wissen: Der Justizirrtum im engeren Sinn, als Fehler, den man ausschließlich der Justiz anlasten kann, ist außerordentlich selten. Fast immer beginnt das Verhängnis bei der Polizei seinen Lauf zu nehmen. Wo sich beispielsweise ein Ermittler oder eine Gruppe von Ermittlem zu früh darauf festlegt, ein bestimmter Verdächtiger müsse der Täter sein. In vielen Fällen ist aber auch der auf den Ermittlern lastende Erfolgsdruck das auslösende Moment. Wenn die Medien auf sie eintrommeln, wenn der Polizei Gleichgültigkeit, ja Unfähigkeit vorgeworfen wird, steigt auch die Gefahr, daß sie hinkenden Beweisen ein wenig auf die Sprünge hilft. In den USA, wo die Sheriffs vom Volk gewählt werden, ist sie besonders groß.

So kann es zu Vorfällen wie im Fall Preston in Los Angeles kommen. Als Deserteur der US-Navy war Preston für die Polizei ein angenehmer Verdächtiger, wie jeder Verdächtige mit zweifelhaftem Vorleben. Und der Deserteur hatte ja Geld gebraucht! Es fehlte nur noch die Aussage der in ihrer Wohnung Überfallenen Frau Parsons, daß sie den Räuber einwandfrei wiedererkannte. Die Polizei von Los Angeles ging auf NummerSicher und spielte der Presse die unwahre Meldung zu, die in der Wohnung gefundenen Fingerabdrücke seien mit denen des Deserteurs identisch, worauf ihn die Überfallene prompt „wiedererkannte".

Mit dem Wiedererkennen ist es übrigens so eine Sache - obwohl der Augenzeugenbeweis als Krone der Beweise gilt. Nach der Verhaftung des „Bankräubers mit dem Dutzendgesicht" in Bielefeld wurden gleich drei (!) von Zeugen angeblich mit Sicherheit als Bankräuber „wiedererkannte", zu langjährigen Freiheitsstrafen Verurteilte freigelassen. Sie hatten nicht das geringste mit dem ihnen zur Last gelegten Verbrechen zu tun. Ein Fall von vielen ähnlichen in der Literatur.

Nach der Aufklärung eines besonders krassen Falles in den sechziger Jahren wurde der Strafrechtslehrer Karl Peters vom deutschen Bundestag mit einem Forschungsprojekt zum Thema Fehlurteil beauftragt. Er ermittelte rund 1.200 Fehlurteile zu Lasten der Angeklagten in zwei Jahrzehnten, allein in der Bundesrepublik Deutschland.

Einen so skandalösen Fall wie den des deutschen Gutachters Specht, der die Anstreichersgattin Maria Rohrbach für Jahre ins Gefängnis brachte, haben wir in der österreichischen Kriminalgeschichte nicht. Er bewies aufgrund von Proben von Kaminruß, die genauso zusammengesetzt waren wie jeder andere Kaminruß, im Rohr-bach'schen Kamin sei ein menschlicher Kopf verbrannt worden. Frau Rohrbach säße vielleicht heute noch -wäre der Kopf nicht Jahre später in einem ausgetrockneten Tümpel zum Vorschein gekommen. Aber ein österreichisches Gericht verurteilte Erich Rechberger wegen Vergiftung eines Kindes, in dessen Leiche Thallium gefunden worden war, übersah aber, daß ausgerechnet das bei Rechberger sichergestellte Rattengift gar kein Thallium enthielt. Der unschuldig Verurteilte saß 17 Jahre...

Mit dem konkreten Anlaßfall hätte das alles überhaupt nichts zu tun -hätten nicht beamtete Tratschtanten Indiskretionen begangen, die (vor allem, wenn es so weitergeht) geeignet erscheinen, die Wahrheitsfindung des Gerichts zu beeinträchtigen. Hätten nicht, siehe oben, Polizei-Tratschtanten schon soviel Unheil gestiftet. Wenn sie ihrer Sache sicher sind, können sie schweigen und der Sache ihren Lauf lassen. Wenn nicht, haben sie längst zu viel geredet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung