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Polnische Symbole

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Die kleinen Steinpyramiden auf dem winzigen Friedhof der Stanislawkirche in Warschau, wo Jerzy Popieluszko begraben wurde, haben wie fast alles in Polen eine doppelte Bedeutung: die Märtyrer des Urchristentums wurden oft gesteinigt, und aus Stein sind auch die Pyramiden, die großen Mausoleen der Mächtigen dieser Welt, mit denen sie sich für die Nachwelt verewigen wollten.

Von der Miliz werden diese kleinen Türmchen, die untertags von den immer noch in unüberschaubarer Zahl zusammenströmenden Gläubigen aufgeschichtet werden, nachts wiederum zerstört — trotz einer freiwilligen Nachtwache von Pfarrangehörigen. Es fällt nicht schwer, auch darin ein Symbol zu sehen, für das polnische Leben auf zwei Ebenen, die einander immer wieder berühren und auch aus dem Weg gehen.

Denn der subtilen Repression, die beim Schlangestehen für nahezu alles beginnt und bei den undurchsichtigen Entscheidungen der Bürokratie etwa über die Genehmigung eines Auslandsaufenthaltes noch lange nicht aufhört, steht ein subtiler Widerstand gegenüber, der der Gesinnung entspricht, „Den Körper könnt ihr tö-

ten, aber der Geist lebt weiter". Dieses Spruchband hängt immer noch an den Einfriedungsgittern der Kirche.

Ist es wirklich nur der November mit seinem trüben, regnerischen und nebligen Wetter, der über alles in Warschau einen Grauschleier legt? Die Kirche, in der langen, zerrissenen Geschichte dieses Landes immer ein Hort der nationalen Identität des polnischen Volkes, mahnt ebenso zur Mäßigung wie die Machthaber eine solche erzwingen wollen. Aber zu ihnen hat niemand mehr Vertrauen, wie umgekehrt diese Regierung zu ihrem Volk kein Vertrauen hat.

Die wildesten Gerüchte schwirren durch Warschau. Angeblich soll in wenigen Tagen das Kriegsrecht wieder eingeführt werden. Lange debattiert man abends darüber, in der kleinen, urgemütlichen Wohnung eines Warschauer Universitätsprofessors. Welchen Sinn soll das geben? Ist Marschall Jaruszelski vom stalinistischen Flügel bereits ernsthaft bedroht — oder sind die Ereignisse um die teilweise erfolgte Offenlegung der Ermordung und Folterung Popieluszkos nur ein geschickter Schachzug? Niemand weiß es. Wahrscheinlich ist es müßig, nach einem Sinn der Ereignisse in diesem Lande zu fragen, meint ein angesehenes Mitglied der Akademie.

Was auf den ersten Blick wie Resignation, wie unendliche Müdigkeit anmutet, könnte ebensosehr auch als einzig mögliche Verhaltensweise zum Uberleben ausgelegt werden, wie sie oft in der Geschichte Polens praktiziert werden mußte. Aber kann ein ganzes Volk durch Jahrzehnte hindurch in einer Art innerer Emigration leben?

Mag sein, daß man sich an die äußeren Gegebenheiten gewöhnen kann, an die Benzinrationierung, an die Versorgungslücken, an das ewige Schlangestehen, aber auch an den Schwarzmarkt, die Ausländerhotels und -geschäfte, in denen es für Devisen all das gibt, was für polnische Währung kaum zu erschwingen ist — so wie wir uns an den Wohlstand, den Konsum und die Umweltverschmutzung gewöhnt haben. Kann man sich aber an das Mißtrauen gewöhnen?

Wieder eine Fahrt über das Land, an endlosen Feldern und Wäldern vorbei. Pflügende Bauern, Pferdegespanne - die eigenartige Weite und Traurigkeit dieses Landes werden erahnbar.

Posen, die Hauptstadt Großpo-lehs, wo man stolz darauf ist, daß die Altstadt, der von einem Renaissanceprachtbau gekrönte Ry-nek, aus regionalen Mitteln und nicht durch ein gesamtnationales Opfer wie in Warschau wieder aufgebaut werden konnte, setzt kleine Farbtupfer in das Grau in Grau.

Mittagessen in einem kleinen privaten Lokal, das zugleich als Bildergalerie und abends als Kabarett dient. „Wir wollen, daß Sie hier eine Atmosphäre finden, die

Sie die Mühseligkeit und Plage des Alltags vergessen läßt", steht auf den Tischkarten. Was bei uns Werbung wäre, mutet hier wie das Versprechen zu einer Enklave an. In Posen nimmt man vieles viel leichter. Ist es wie im zaristischen Reich, daß die Wirklichkeit um so erträglicher wird, je weiter man von der Residenz entfernt ist?

Polen hat sich im Widerspruch eingerichtet. Man kann dies, wie Wladislaw Bartoszewski, wohl einer der führenden Intellektuellen des Landes, ein Handeln im Rahmen des Möglichen nennen, wo alles andere zum vielbeschworenen Romantizismus der alten polnischen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts wurde. Vor den alten Backsteingebäuden der Universität steht das Mahnmal an den Posener Aufstand, der, getragen von Industriearbeitern, zum ersten Mal die Sehnsucht nach Freiheit in diesem Lande zum Ausdruck brachte. Man wäre gar nicht mehr verwundert, würde auch dieses Mahnmal noch von der Miliz bewacht.

Polen ist beides: Wirklichkeit und Symbol, so wie die Tag und Nacht brennenden Grablichter rings um die Stanislawkirche in Warschau Wirklichkeit und Symbol in einem sind.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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