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Pompeji am Tagliamento

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„Die Menschen Friauls sind mit den Nerven fertig“. So beschreibt der Erzbischof von Udine, Alfredo Battisti, die Lage in der norditalienischen Region nach der zweiten katastrophalen Bebenwelle. Erzbischof Battisti war am vergangenen Freitag in Wien, um mit Kardinal König das Projekt einer großen internationalen Ausstellung über die sakrale Kunst Friauls zu besprechen. Die Ausstellung im kommenden Jahr soll dazu beitragen, die Erinnerung an die Tragödie dieser Landschaft im Herzen Europas wachzuhalten, wenn schon längst andere Ereignisse die Titelseiten der Zeitungen füllen werden.

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„Die Menschen Friauls sind mit den Nerven fertig“. So beschreibt der Erzbischof von Udine, Alfredo Battisti, die Lage in der norditalienischen Region nach der zweiten katastrophalen Bebenwelle. Erzbischof Battisti war am vergangenen Freitag in Wien, um mit Kardinal König das Projekt einer großen internationalen Ausstellung über die sakrale Kunst Friauls zu besprechen. Die Ausstellung im kommenden Jahr soll dazu beitragen, die Erinnerung an die Tragödie dieser Landschaft im Herzen Europas wachzuhalten, wenn schon längst andere Ereignisse die Titelseiten der Zeitungen füllen werden.

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Zur Zeit geht es mehr um „Erste Hilfe“. Bei der ersten Erdbebenkatastrophe am 6. Mai waren 29 Gemeinden in der Provinz Udine und zwölf in der westlich benachbarten Provinz Pordenone verwüstet woren, 78 weitere Gemeinden in den beiden Provinzen galten als leicht bis schwer geschädigt. Bei der letzten Bebenwelle wurden auch die Carnia (der gebirgige Norden Friauls), die ganze Provinz Pordenone und jenseits der Grenze der seit 1947 zu Jugoslawien gehörige östliche Zipfel Friauls im, Isonzotal schwer in Mitleidenschaft gezogen. Vor dem 15. September waren 40.000 Friulaner obdachlos, nach den letzten schweren Erdstößen ist diese Zahl auf 60.000 geklettert. Erzbischof Battisti berichtet, daß viele Häuser, die man nach dem 6. Mai für restaurierbar gehalten habe, am 15. September endgültig zusammengestürzt seien, desgleichen die letzten Meisterwerke der Sakralarchitektur: Dom und Campanile von Venzone, der Dom von Gemona. Gemona und Venzone nennt der Erzbischof zwei „tote Städte, zwei Pompeji“.

Trotz der sprichwörtlichen Verbundenheit der Menschen Friauls mit ihrem heimatlichen Herd, dem „fo-golar“, hatte die monatelange Unsicherheit viele Bewohner der Bebenzone so belastet, daß sie auf den Schock der neuerlichen Katastrophe vom 15. September nur mit Flucht reagieren konnten. Erzbischof Battisti formuliert: „Am 15. September ist der Wille vieler Friulaner zum Durchhalten zerbrochen. Vorher konnte man sich noch der berechtigten Hoffnung hingeben, daß Friaul bald wieder aufgebaut sein würde.“

Aber nicht alle Friulaner sind ans Meer geflohen. Vor allem die bäuerlichen Familien wollen ihre Felder nicht im Stich lassen, auch viele berufstätige Männer können nicht weg aus der Bebenzone. Ebenso sind die Priester ausnahmslos bei ihren Gemeinden geblieben. Für alle diese Menschen müssen nun wintersichere Quartiere beschafft werden. Die österreichische Caritas hat zu Behelfswohnungen umgebaute Eisenbahnwaggons nach Friaul in Marsch gesetzt, mit Hilfe von Tiefladern sollen die Waggons auch in Orte gebracht werden, die nicht an Eisenbahnstrecken liegen. Erzbischof Battisti hat appelliert, den Friulanern Wohnwagen zur Verfügung zu stellen. Die Erzdiözese Udine schließt für diese Wohnwagen eine eigene Versicherung ab, so daß die Besitzer keinen Verlust befürchten müssen.

Aber bei Provisorien darf es nicht bleiben. Prälat Ungar hat nach der letzten Bebenwelle sofort verkündet, daß die österreichische Caritas ihr Programm zum Bau von 40 Häusern

in der zerstörten Kleinstadt Mag-nano weiterführen wird. Der besondere Dank Erzbischof Battistas galt daher in Wien auch der österreichischen Caritas, den österreichischen Katholiken und allen anderen Österreichern, die. Friaul geholfen haben und helfen.

Aber Erzbischof Battisti denkt auch an die Zukunft. Die Regierung in Rom hat zwar eine Sondersteuer beschlossen, die Lire-Milliarden für den materiellen Wiederaufbau Friauls bringen wird. Doch der Wiederaufbau der gewachsenen Kulturlandschaft Friauls geht über die Kräfte eines einzelnen Landes. Fast alle Baudenkmäler sind zerstört, seit der letzten Bebenwelle ist auch die Regionalhauptstadt Udine betroffen, der Dom der Stadt mußte gesperrt werden.

Momentan scheinen die teilweise Evakuierung der Bevölkerung und das geduldige Abwarten, bis sich die Erde wieder beruhigt, vordringlich. Dann wird es um den materiellen, wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Rekonstruktion der Infrastruktur gehen. Aber Friaul soll nicht zu einer gesichtslosen Barackenlandschaft werden.

Dieses Ziel hat sich schon nach der ersten Bebenkatastrophe vom 6. Mai die Aktion „Friuli vive — Friaul lebt“ gesetzt. Die von einem Österreicher, dem Klagenfurter Walter Horn, mitgetragene Initiative hat in Kardinal König ebenso wie in Erzbischof Battisti überzeugte Förderer gefunden. Beim Besuch Erzbischof Battistis bei Kardinal König ging es um die Vorbereitimg jener großen Ausstellung im kommenden Jahr, die ein Röntgenbild der vielschichtigen Kultur Friauls werden soll.

Sicher ist es in erster. Linie auch Zweck dieser Ausstellung, die in vielen europäischen Ländern gezeigt werden soll, jene Sympathie wachzuhalten, die Friaul nicht nur im kommenden Jahr, sondern noch viele Jahre hindurch brauchen wird. Aber wie der Mensch „nicht von Brot allein“ leben kann, genügen materielle Hilfsmaßnahmen nicht; auch die geistige Dimension der europäischen Kulturlandschaft Friaul muß wiedergewonnen werden.

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