6867542-1978_09_12.jpg
Digital In Arbeit

Porträt eines Champions

Werbung
Werbung
Werbung

Die Mittagszeit war längst überschritten, als der stellvertretende Kulturminister sich erhob und die lieben Genossen Filmschaffenden daran erinnerte, daß sie über dem stundenlangen Diskutieren recht hungrig geworden waren. „Und im übrigen möchte ich Sie fragen, ob Sie in irgendeinem anderen sozialistischen Land so offen mit einem stellvertretenden Minister diskutieren könnten.“ Dröhnender Applaus beendete die Diskussion in der südungarischen Stadt Pees (Fünfkirchen), wo man sich zur alljährlichen Schau der Jahres-Filmproduktion getroffen hatte.

Die Diskussion verbiß sich aber schnell in einen Film, der wider alles Erwarten im Augenblick den größten Publikumserfolg hat und überall im Land diskutiert wird. „Porträt eines Champions“, ein 96 Minuten langes Interview mit dem Sportler Andräs Balczö, dem vielfachen Meister im Fünfkampf, Olympiasieger von München, Held der Nation. Der Monolog wird nur unterbrochen von einigen Fragen des Regisseurs und wenigen Wochenschau-Aufnahmen, die Balczö in den entscheidenden Momenten seiner Siege zeigen Ein Un-Film also, der normalerweise das Publikum in Scharen aus dem Kino vertreiben müßte.

Aber Balczö ist nicht nur populär. Er wurde ungerecht behandelt. Der Durchschnitts-Ungar identifiziert sich mit einem Landsmann, dessen Leistung nicht gewürdigt wird. Der Fünfkämpfer hatte, als er in München die Goldmedaille errang, sein damals 34jähriges Leben ganz und gar dem Sport gewidmet. Er hatte so viel trainiert, wie ein Mensch überhaupt trainieren kann. Damit entsprach er zwar nicht unbedingt den Regeln des Amateursports, aber seine Vielseitigkeit -Laufen, Reiten, Schwimmen, Fechten, Schießen -, sein geistiges Niveau, sein durch und durch lauterer Charakter lassen ihn als Verkörperung klassischer olympischer Ideale erscheinen. Der erfolgreichste Fünfkämpfer aller Zeiten bekam lukrative Angebote aus Kanada, den USA, Italien. Keine Familienbindungen hielten ihn in der Heimat. Aber er blieb. Doch als er seine Sportlerkarriere beendete, ließen ihn die Verbandsfunktionäre fallen, er bekam keinerlei angemessene Stelle, keine sportliche Funktion. Da er außer seinem Sport nichts gelernt hat, ist er nun Hilfsarbeiter. Es ist also begreiflich, daß seinen Schulfreund, den Filmregisseur Ferenc Kosa, der Fall interessierte, daß Hunderttausende in die Kinos strömen, um zu erfahren, was cler Nationalheld zu sagen hat.

Balczö ist keiner von den hochgezüchteten Weltrekordlern. Er hat sich viele Gedanken gemacht über den Sport, über die Menschen. Bei einem Geländelauf bemerkte er, wieviele Menschen mit ihm liefen. „Da habe ich erkannt, daß ich nicht für mich selbst, nicht für einen Preis renne. Da habe ich gesehen, wievielen Menschen ich eine Freude bereite, wenn ich gewinne, oder Kummer, wenn ich verliere... Der Gedanke, daß ich für andere laufe, hat sich in mich eingefressen... Er trug mir eine Verantwortung auf.“ Balczö glaubt, daß das nationale Selbstbewußtsein der Ungarn, die in ihrer Geschichte mit Erfolgserlebnissen nicht verwöhnt wurden, solche Siege braucht, er hat vielfach erlebt, wie tief die Begeisterung war. Sie war von ganz anderer Art als die Massenhysterie um einzelne Sportler in anderen, glücklicheren Ländern.

Nach dem großen Sieg wußte er nicht, wie es weitergehen sollte. Der tief religiöse Sportler erzählt nun, wie er sich 40 Tage in die Einsamkeit zurückzog und nur vier Bücher mit-•nahm: die Bibel, Spinozas „Ethik“, die Gedichte des ungarischen Lyrikers Attila Jöszsef und ein Buch über die 40 ungarischen protestantischen Prediger, die in der Gegenreformation als Galeerensklaven verkauft wurden. Als er sich entschieden hatte, abzutreten und nicht die Öffentlichkeit seinen langsamen Niedergang miterleben zu lassen, gab es nicht einmal eine Abschiedsfeier!

Er bewies Gemeinschaftsgeist, indem er sich bei der Pflege der Rennstrecken und Sportplätze nützlich machte. Im Verband hatte er nichts mehr zu reden. Seine Vorschläge zur Auswahl der Besten für internationale Wettkämpfe und zur Verbesserung der sportlichen Leistungen wurden abgelehnt: „ ... diejenigen, die bisher still waren und jetzt gemerkt haben, daß ich schutzlos geworden bin, haben zwar Mut bekommen, sich offen als meine Feinde zu zeigen, aber sie tun mir nichts. Wichtig ist nur, daß ich mich nicht in die Sachen des Fünfkampfs einmische. Ich soll nur still bleiben... und das ist für mich schlimmer, als wenn sie mich angreifen würden. Ich fühle mich überflüssig.“ Der Mann, der geduldig immer wieder die von den Turnierpferden herabgerissenen Hürden aufstellt, spricht schließlich von Demut: „Das ist heute meiner Meinung nach der größte Engpaß bei den Fünfkämpfern. Sie machen alles mögliche, anstatt mit Demut und Opferbereitschaft zu arbeiten. Und diese Arbeit mache ich jetzt auch deshalb, damit jeder Fünfkämpfer sieht, daß ich meine Demut gegenüber der Sache nicht verloren habe.“

Es ist verständlich, daß man sich mit solchen Gedanken, klaren Idealen und Forderungen bei mittelmäßigen Verbandsfunktionären nicht beliebt macht. Noch dazu, wenn man ein betont religiöser Mensch ist. Die Autorität der erbrachten Leistungen ist da kaum von Vorteil. Man kann den ungarischen Film nur beglückwünschen zu diesem Werk. Hier wird das Volk aufgerufen, wird Gericht gehalten über die Entscheidung namhafter Funktionäre, die eigene kleinliche Interessen über die der Sache gestellt haben. Natürlich kann man fragen, ob dieser Film gefördert worden wäre (was der Fall war), wenn sich der große Erfolg hätte voraussehen lassen. Anderseits zeigt eine Ubersicht der neuesten ungarischen Spielfilme, wie sie in Pees möglich war, daß die Filmleute sich brennender nationaler Gegenwartsprobleme annehmen und besonders liebevoll den Schicksalen kleiner Leute am Rande der Gesellschaft nachgehen, die einen vergeblichen Kampf gegen übermächtige oder unbegreifbare Kräfte führen. Auch das Verhältnis des Intellektuellen zum Volk wird vielfach, auch heiter-satirisch und selbstkritisch, abgehandelt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung