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Potemkinsche Glaubensfreiheit

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Anläßlich des bevorstehenden Besuchs des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolaj Tichonow in Österreich ist es angebracht, auf die Lage der Christen in seinem Land hinzuweisen. Offizielle Darstellungen, wie die im folgenden wiedergegebene Meldung der russischen Nachrichtenagentur Nowosti, gefallen sich in Schönfärberei. Wie die Dinge wirklich liegen, geht aus dem Kommentar von Pater Förg, einem profunden Kenner der Situation der verfolgten Kirche im Osten, hervor.

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Anläßlich des bevorstehenden Besuchs des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolaj Tichonow in Österreich ist es angebracht, auf die Lage der Christen in seinem Land hinzuweisen. Offizielle Darstellungen, wie die im folgenden wiedergegebene Meldung der russischen Nachrichtenagentur Nowosti, gefallen sich in Schönfärberei. Wie die Dinge wirklich liegen, geht aus dem Kommentar von Pater Förg, einem profunden Kenner der Situation der verfolgten Kirche im Osten, hervor.

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Es gibtiin der Sowjetunion über 5000 Gemeinden der evangelischen Chri- sten-Baptisten, die über eine halbe Million Gläubige um sich vereinigen. Neue Gläubige, die die Zeremonie der Wassertaufe hinter sich haben, werden als Mitglieder aufgenommen. In Alma- Ata, Vilnius und Rostow am Don konnten vor kurzem neue Gebetshäuser eingeweiht werden. In Kuibyschew, Leningrad, Taschkent und anderen Städten entstehen neue Tempel.

Die Bibel, die Evangelien, geistliche Liederbücher, Kalender sowie die Zeitschrift „Brüderliche Neuigkeit“ werden regelmäßig herausgegeben. Auch religiöse Literatur aus dem Ausland wird in der UdSSR verbreitet.

Wir können uns heute über keinerlei Unterdrückung seitens der Regierung beklagen. Das möchte ich mit besonderer Genugtuung betonen, da unsere Brüder und Schwestern in der Vergangenheit leider einen dornenvollen Weg gegangen sind. Im zaristischen Rußland, als der orthodoxe Glaube Staatsreligion war, waren die Baptisten Verfolgungen ausgesetzt…

Nach der Oktoberrevolution im Jahre 1917 wurde das Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schulen von der Kirche erlassen und alle Religionen wurden vor dem Gesetz gleichberechtigt.

Den Bürgern der UdSSR wird die Gewissensfreiheit garantiert, das heißt das Recht, sich zu einer beliebigen Religion oder zu gar keiner Religion zu bekennen, das Recht religiöse Kulthandlungen durchzuführen. Der Aufruf zu Haß und Feindseligkeiten, in Zusammenhang mit dem religiösen Bekenntnis, ist durch die Verfassung verboten.

Die Baptisten sind gleichberechtigte Bürger und haben gleichen Anteil am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes.

Ich könnte dafür Tausende Beispiele anführen, möchte aber zwei, meiner Meinung nach besonders bemerkenswerte, hervorheben. Unser Bruder im Glauben, der Wissenschaftler Pjotr Nedowes, wurde für die Erfindung eines neuen Schwimmbaggers mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet.

Und unsere schon verstorbene ‘Schwester Natalja Michailenko, eine Heldin der Sozialistischen Arbeit, sie war Teezüchterin, wurde zur Deputierten in den örtlichen Sowjet gewählt…

Als Christen erheben wir unsere Stimme, appellieren an das Gewissen der Menschen, daß Friede und Wohlergehen auf der Erde triumphieren mögen.

Wir freuen uns, daß im August 1975 in Helsinki die Staatsoberhäupter von 35 Ländern ihre Unterschrift unter die Schlußakte der Gesamteuropäischen Konferenz gesetzt haben. Die Vereinbarungen dieses Dokuments erfordern allgemeine Unterstützung und Realisierung.

Die Erde dürstet nach dem Anbruch jener Zeit, in der „die Schwerter in Pflüge und die Speere in Sicheln umgeschmiedet werden, in der ein Volk gegen das andere nicht mehr das Schwert erhebt und in der nicht mehr die Kriegsführung gelehrt wird.“

Wir, die evangelischen Christen- Baptisten der UdSSR, rufen alle Christen des Westens und des Ostens auf, sich zu vereinen im gemeinsamen Gebet für den Frieden auf Erden und für die Abrüstung.

Alexej Bytschkow ist Generalsekretär des Allunionsrates der evangelischen Christen-Baptisten.

„Nowosti“ macht’s möglich

Wer es noch nicht gewußt hat, darf es jetzt dank der Presseagentur „Nowosti“ erfahren, wie gut es den Baptisten -

sprich Christen - in der Sowjetunion geht, daß sie „sich heute über keinerlei Unterdrückung seitens der Regierung beklagen können“.

Alles’ ermöglicht der Sowjetstaat: neue Gebetshäuser, selbständige Gemeinden, die Herstellung religiöser Literatur, notfalls auch deren Einfuhr aus dem Ausland, Auszeichnungen für einen Erfinder auch trotz seines Christseins, Appelle an das Gewissen der Menschen zwecks Frieden und Wohlergehen auf Erden.

Dies und noch mehr wird durch die gesetzlich verankerte Gewissensfreiheit, das Dekret der Trennung der Kirche vom Staat und nicht zuletzt durch die Helsinki-Schlußakte garantiert.

Weil „Nowosti“ in Sachen sowjetischer Religionspolitik kompetent ist und um das Wohlergehen aller Menschen, inklusive der sowjetischen, besorgt ist, erlaube ich mir, neugierige Fragen zur Klärung in einer künftigen Presseaussendung zu stellen:

Wann wird es den Katholiken in Litauen gestattet, ihre 600von 1180zweck- entfremdeten Kirchen und Kapellen wieder zu benützen oder ihre erste Kirche seit 1945 zu errichten, ohne daß der

fertiggestellte Bau wieder weggenommen wird, wie es in Klaipeda (Memel) geschehen ist?

Welche Pläne bestehen für die ent- eigneten und vom Verfall bedrohten evangelischen Kirchen in Lettland? Wann erhalten die unierten Ukrainer ihre 4400 Kirchen zurück? Und wann ist beabsichtigt, die 48000 geschlossenen orthodoxen Kirchen wieder zu öffnen?

Warum müssen die Reformbaptisten mit 2000 Gemeinden ihre Gottesdienste in Privatwohnungen oder unter freiem Himmel abhalten?

Die derzeit offenen Kirchen werden vom Sowjetstaat gegen hohes Mietgeld vermietet. Wie verträgt sich diese Praxis mit dem Grundsatz der Trennung der Kirche vom Staat?

Wann dürfen die 17 in der UdSSR existierenden Klöster wieder größere Gesellschaften bekommen? Oder denkt man gar an Reduzierung, wie es die derzeitigen Attacken gegen das Potschaev- Kloster vermuten lassen? Liegen die ehemaligen Klöster zu ungünstig, zu weit entfernt von den Touristenstraßen? Seltsamerweise hat das unduldsame Zarenreich über 1250 Klöster geduldet.

Welches Toleranzgesetz wendet man gegen den einzigen katholischen Priester in der Republik Moldau an, der seit einem Jahr keine Gottesdienste mehr feiern darf?

Warum ist man im Land technischer Hochentwicklung gezwungen, Bibeln auf mittelalterliche Weise - handschriftlich - herzustellen? Wem nützen die häufigen Hausdurchsuchungen mit Konfiszierung religiöser Literatur? Bei uns sind freiwillige Altpapiersammlungen ergiebiger und kulturfreundlicher!

Unverständlich ist, warum im Land der vollen Emanzipation es den Frauen verboten ist, Gebetsversammlungen oder Bibellesungen zu organisieren, warum Eltern ihre Kinder nicht zu Gottesdiensten mitnehmen dürfen und warum Jugendlichen unter 18 Jahren die aktive Teilnahme an Gottesdiensten verwehrt ist.

Wie alt müssen Ihre Auswanderungsgesuche werden, bis etwa die

30000 auswanderungswilligen Pfingst- ler und Reformbaptisten emigrieren dürfen? Es dürfte bekannt sein, daß sieben Personen in der US-Botschaft in Moskau länger festsitzen, als es den Geiseln im Iran beschieden war.

Warum gibt es im Lande des traditionsreichen Kommunismus noch so Unverbesserliche wie den Adventistenfüh- rer Schelkov, daß er mit 83 Jahren noch fünf Jahre strenges Arbeitslager brauchte? Übrigens hat er nach einem Jahr kapituliert, durch sein Ableben. Apropos, bei uns können Arbeitslager nur mehr als Museen besichtigt werden!

Wozu braucht man für die sonderpsychiatrischen Kliniken noch Stachel- dcahtsicherungen? Sind die Spezialmedikamente, jüngstens von Frankreich geliefert, noch zu wenig sicher?

Dürfen österreichische Psychiater Studienreisen zu den Sonderanstalten in Orei, Dnjepropetrowsk, Tschernja- chowsk, Taschkent, Kasan, Sytsch- jowka, Smolensk, Alma-Ata und Ksyi- Orda machen, um unter anderem auch Josip Terelja, Valerija Makeeva, Alexander Kuzkin und Anatolij Runov zu besuchen? Denkt man daran, die antireligiösen Abteilungen des KGB und die staatlichen „Ämter für religiöse Angelegenheiten“ aufzulösen? Dies würde auch zu finanziellen Einsparungen zugunsten der Volkswirtschaft beitragen.

Haben in Hinkunft die Helsinki- Schlußakte auch praktischen Nutzwert für sowjetische Menschen, speziell für die 450 Sowjetbürger, die in den letzten Jahren aus Glaubensgründen verurteilt worden sind.

Für „Nowosti“ dürfte es nicht schwierig sein, Neues in Erfahrung zu bringen über Alexander Ogorodnikov, Gleb Jakunin, Balys Gajauskas, Sergej Kovalev, Nikolaj Goretoj, Tatjana Ve- likanova, Antanas Terleckas, Petras Plumpa, Julijs Sasnauskas, Wladimir Poresch, Vasyl Romanjuk, Wladimir Osipov, Viktoras Petkus, Natalja Mal- ceva, Petras Paulaitis und Vasilij Schi- pilov. Die beiden letzten sind seit 1947 bzw. 1941 interniert.

Daß sie alle amnestiert worden sind, das wäre eine Meldung, mit der „Nowosti“ unser Interesse wirklich wecken könnte.

JAKOB FÖRG

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