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Präzedenzfall Österreich

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FURCHE: Sie sind seit zwei Monaten Botschafter der EG-Kommission in Wien. Haben Sie den Eindruck, daß Österreich wirklich weiß, was es will?

DIETRICH HAMMER: Ich kann einer Entscheidung der österreichischen Regierung nicht vorgreifen. Aber es sieht danach aus, daß die Gemeinschaft 1989 mit einem Beitrittsansuchen konfrontiert werden wird. Ich habe den Eindruck, daß keine ernstzunehmende politische Kraft in diesem Land sich einem Ansuchen entgegenstellt. Das gilt sowohl für die großen politischen Parteien als auch für die Sozialpartner. Selbst auf Gewerkschaftsseite gibt es keinen ernsthaften Widerstand.

FURCHE: Wir wollen in die Gemeinschaft, aber an der Neutralität darf nicht gerüttelt werden. Geht das?

HAMMER: Das ist sicher das schwierigste Problem. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten bei den wirtschaftlichen Fragen geben wird. Wir haben in der EG Länder verkraftet, deren Niveau wesentlich weiter vom EG-Durchschnitt entfernt war als das österreichische. Die Frage der Neutralität kann man allerdings jetzt noch nicht beurteilen. Jedes Land gestaltet sie nach eigenem Verständnis. Sie ist daher zunächst ein österreichisches Problem.

FURCHE: Wieso unseres? Wir haben gesagt, was wir wollen. Die Gemeinschaft noch nicht. Helmut Kohl zum Beispiel sieht keine Probleme, Leo Tindemans hingegen hält Beitritt und Neutralität für absolut unvereinbar.

HAMMER: Daß Neutralität und Mitgliedschaft unvereinbar wären, kann heute so nicht gesagt werden, weil man zuerst Österreichs Antrag abwarten muß. Erst dann können die Mitglieder entscheiden, ob die von Österreich definierte Neutralität mit den Rechten und Pflichten eines Vollmitgliedes vereinbar ist. Es gibt in der EG tatsächlich keine einheitliche Position, und die wird es auch so schnell nicht geben. Was jetzt geäußert wird, sind Gedanken von Politikern, die oft nicht einmal mit den jeweiligen Regierungen abgestimmt sind.

FURCHE: Ist es da überhaupt günstig,1989 ein Ansuchen zu stellen? Sollten wir nicht warten, bis Brüssel die Position gegenüber Neutralen genauer festlegt?

HAMMER: Der Zeitpunkt ist Sache des Kandidaten. Innenpolitisch gesehen muß Österreich jetzt wahrscheinlich eine weitere Phase der Bemühungen einläuten, damit das Interesse nicht nachläßt. Allerdings haben wir signalisiert, daß Brüssel bis 1992 ohnehin mit dem Binnenmarkt vollauf beschäftigt ist.

FURCHE: Hat Österreichs Kandidatur dann Vorbildfunktion?

HAMMER: Österreich ist für die Gemeinschaft sicher Anlaß, sich näher mit den Neutralen zu befassen. Insofern ist das Land ein Präzedenzfall.

FURCHE: Wie beurteilen Sie das ständige Hervorkehren der Neutralität? Glauben Sie an Taktik gegenüber Brüssel oder an innenpolitische Beschwichtigung?

HAMMER: Es ist schwierig, Motivationen zu interpretieren. Ich habe den Eindruck, daß man es ernst meint mit der Neutralität.

FURCHE: Unser Verständnis als Ost-West-Drehscheibe spielt für Brüssel auch eine Rolle?

HAMMER: Die Ost-West-Kon-, frontation schwächt langsam ab, und entsprechend wird die Rolle der Neutralen zu bewerten sein. Österreichs Mittlerfunktion war in früheren Jahren sicher höher zu bewerten. Eine Neuorientierung der Gemeinschaft gegenüber Osteuropa ist längst eingeleitet. Die EG schließt seit kurzem selbst zweiseitige Abkommen mit Ostblockstaaten ab.

FURCHE: „Wir sind keine Bittsteller“ ist die offizielle Position. Was, außer einer florierenden Wirtschaft und guten Ostbeziehungen würden Sie sonst noch der Habenseite zuschlagen?

HAMMER: Die Außenhandelsdaten zeigen, daß Österreich heute schon recht gut in die Gemeinschaft eingebettet ist. Auch in Forschung und Entwicklung bei-

„Wenn Österreich nicht in die EG kommt, ist das keine Katastrophe“ spielsweise bringt das Land mehr ein als manch anderer potentielle Kandidat. Wir. rechnen aber sicher nicht auf Heller und Pfennig aus, wo der Vorteil für uns und wo er für die Österreicher liegen würde. Bei aller Nüchternheit, die sicher am Platz ist — wir streben etwas mehr an als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, die sich in materiellen Vor- und Nachteilen erschöpft.

FURCHE: Bei uns versuchen manche 'mit buchhalterischer Akribie Vor- und Nachteile auszurechnen ...

HAMMER: Die sechs Gründungsmitglieder haben die Gemeinschaf t nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen geschaffen. Es sollte der Antagonismus zwischen den europäischen Ländern - insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland — überwunden werden. Großbritannien, Dänemark, Irland, Griechenland, Spanien und Portugal sind in erster Linie wegen des wirtschaftlichen Erfolges der Gemeinschaft beigetreten. Sie haben auch die wirtschaftlichen Aspekte und Argumente manchmal zu sehr in den Vordergrund gestellt. Frau Thatcher etwa stellt derzeit überrascht fest, daß das, was sie bisher unterschrieben und mitgetragen hat, sehr weit in Richtung vereinheitlichtes Europa führt. Daß sie so weit womöglich gar nicht gehen wollte.

FURCHE: Hat etwa Osterreich auch noch nicht genug überlegt, worauf es sich einläßt?

HAMMER: Ich glaube nicht, daß man Österreich Lektionen erteilen muß. Aber das Land muß sich fragen, ob es der wirtschaftlichen Vorteile wegen die Neutralität tatsächlich den Gemein-schaftszwängen aussetzen will. Vielleicht sogar einem außenpolitischen Streß, wenn man beispielsweise an Moskau denkt. Österreich ist heute in vieler Hinsicht nicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Außerdem hat Brüssel den Efta-Staaten verstärkte Zusammenarbeit angeboten. Dabei ist grundsätzlich kein wirtschaftlicher Bereich ausgeschlossen.

FURCHE: Es geht auch ohne Vollmitgliedschaft ?

HAMMER: Ja. Man muß bedenken, daß ein Beitritt neben verbindlichen Pflichten auch gewaltige Lasten mit sich bringt. Ich würde auch solchen Stimmen Recht geben, die sagen, wenn Österreich nicht dabei ist, ist das' keine Katastrophe.

Mit EG-Botschafter Dietrich Hammer sprach Elfi Thiemer.

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