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Prinzip — Sack ohne Boden

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Noch vor der Vorlage eines Gesundheitsplanes durch Gesundheitsminister Leodolter preschte ihr Ministerkollege Häuser vehement vor: Ein Gesetzesentwurf des Sozialministeriums verbindet Krankenkassensanierung (sprich: Beitragserhöhung) mit einem Sonderbeitrag für die Gesundenuntersuchungen.

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Noch vor der Vorlage eines Gesundheitsplanes durch Gesundheitsminister Leodolter preschte ihr Ministerkollege Häuser vehement vor: Ein Gesetzesentwurf des Sozialministeriums verbindet Krankenkassensanierung (sprich: Beitragserhöhung) mit einem Sonderbeitrag für die Gesundenuntersuchungen.

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Der Plan bestätigt aufs neue die bereits anläßlich der Installierung des neuen Ministeriums vorgebrachten Bedenken: Krankenkassenwesen und Gesundheitspolitik gehören sachlich zusammen, man kann die komplexen Probleme nicht kompetenzmäßig isoliert sehen.

Tatsächlich kommen die Krankenkassen mit den derzeitigen Beiträgen nicht aus. Das liegt vor allem an der geradezu galoppierenden Kostenerhöhung in allen Bereichen der medizinischen Versorgung.

Zwischen 1961 und 1971 sind demnach die Ausgaben der Krankenver-sicherungsträger je Versicherten folgendermaßen gestiegen:

Die „Dynamisierung“ der Beiträge der Versicherten soll nun erreichen, daß sich die Einnahmen der Kassen parallel zu den steigenden Ausgaben entwickeln. Und das ist, aufs erste besehen, eine logische und naheliegende Forderung.

Anderseits kritisieren Fachleute immer wieder, daß nicht primär ein Konzept der Neuordnung des Kassenwesens insgesamt angestrebt wird, sondern die Sozialversicherungsinstitute stets nur nach vollerer Kasse rufen. Tatsächlich ist allerdings der Ruf nach Verwaltungsvereinfachung problematisch, weil der Anteil der Verwaltung an der Gesamtgebarung unter fünf Prozent liegt und auch bei den allgemeinen Kostenerhöhungen den zweitniedrigsten Posten darstellt.

Wo allerdings angesetzt werden kann, ist eine Reform des Gesundheitswesens als solches — also bei der Reform des Spitalswesens, dem Medikamentenmißbrauch, der Versorgung pflegebedürftiger Personen.

Soll also eine Krankenkassenreform Erfolg haben, müßte mit ihr eine Reform des Gesundheitswesens

Hand in Hand gehen. Für das eine allerdings ist das Sozialmdnisteriüm, für das andere das Gesundheitsministerium zuständig (soferne angesichts der verfassungsrechtlichen Situation die Probleme überhaupt in die Bundeszuständigkeit fallen).

Nun sieht der Sozialminister auch vor, einen Beitrag von höchstens 11.40 Schilling (vom Beitragspflichtigen und Arbeitgeber) zu kassieren, um die Gesundenuntersuchungen durchzuführen. Konkret wird überhaupt nicht gesagt, wofür das Geld (240 Millionen Schilling im Jahr) im Detail ausgegeben werden soll beziehungsweise wie die Gesundenuntersuchungen durchgeführt werden sollen.

Tatsächlich scheiden sich nämlich bereits im Grundsatz der Organisation der prophylaktischen Medizin die Geister. Will der Sozialminister offenbar die Gesundenuntersuchungen über die Krankenkassen durchführen, schlägt der ÖVP-Ausschuß unter Vorsitz von Primarius Wiesinger ein flexibles System vor, das Grunduntersuchungen bei der frei praktizierenden Ärzteschaft mit Untersuchungen in bestehenden Ambulatorien oder von der Ärzteschaft gemeinsam zu schaffenden Einrichtungen vorsieht. Das letzte Modell hat den Vorteil, daß es bereits in Vorarlberg praktisch durchgeführt wurde und positive Ergebnisse brachte — während die Krankenkassenaus-schließlichkeit selbstverständlich ein Weg zum staatlichen Gesundheitsdienst ist.

Derzeit können allerdings auch bereits Gesundenuntersuchungen durchgeführt werden: in Vorarlberg zahlen Krankenkasse und Patienten direkt. Während in Niederösterreich die Gebietskrankenkasse Gesundenuntersuchungen bezahlt, weigert sie sich in Wien. Die bestehenden Einrichtungen der Vorbeugemedizin erhält derzeit in der Bundeshauptstadt das Gemeindebudget.

Bei allen diesen Fragen steht freilich die Unsicherheit im Vordergrund, wieviele Österreicher überhaupt die Möglichkeit der Gesundenuntersuchung nützen würden. An die Einführung zwangsweiser Untersuchungen ist aber offensichtlich von keiner Seite gedacht.

Auch ist bis heute keine Kalkulationsgrundlage erstellt, was Gesundenuntersuchungen in welchem Umfang und nach welchem Standortkonzept überhaupt kosten würden. Die bereits legistisch gefaßten Vorstellungen des Sozialministers müssen daher, wie die „Salzburger Nachrichten“ mit Recht meinen, als „Hasardspiel mit 240 Millionen“ angesehen werden. Man kann der Bevölkerung nicht neue Opfer einreden, wenn man ihr nicht sagt, was mit dem Geld geschieht. Eine versteckte Krankenkassensanierung nach dem „Sack-ohne-Boden-Prin-zip“ ist jedenfalls der schlechteste Weg, Gesunde gesund zu erhalten.

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