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Probleme mit der „!z weiten Wirtschaft"

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Unmittelbar nach der Ernennung Jurij Andropows zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei startete die neue Führung der Sowjetunion eine Kampagne großen Stils gegen die Korruption. Mehrmals wöchentlich berichtete die sowjetische Presse über größere Korruptionsskandale, wobei genaue Angaben über das darin verwickelte Amt, den Ort des Geschehens, die Hauptschuldigen und die auf dem Spiel stehenden Summen gemacht wurden.

Schon nach wenigen Wochen ging ein gewaltiges Donnerwetter auf die Textilindustrie in der Russischen Republik nieder. Minister Paramonow und sein Stellvertreter Bondreko wurden scharf gerügt. Leitende Angestellte und Direktoren von Textilfabriken wurden degradiert und einige von ihnen sogar verhaftet, weil sie Bestechungsgelder angenommen hatten.

Der oberste Staatsanwalt der Sowjetunion, General A. Rekun-kow, sprach sich für die „gnadenlose" Verfolgung von Spekulanten und Bestechlichen aus. In Sowjetarmenien wurden der Minister für Baustoffe, Wartanija, und zwei seiner Stellvertreter degradiert. Mehrere Beamte des Ministeriums wurden wegen Korruption davongejagt.

In der Ukraine wurde ein gigantischer Korruptionsskandal aufgedeckt, in den hohe Beamte des ukrainischen Staatskomitees für Materialien und den technischen Bedarf sowie des Amtes für die Leicht- und Lebensmittelindustrie in Kiew verwickelt waren. Diese Funktionäre, die Bestechungsgelder in einer Gesamthöhe von 156.395 Rubel angenommen hatten, wurden zu neun beziehungsweise 14 und 15 Jahren Haft verurteilt.

Bei der Vergebung von Wohnungen durch den Sowjet von Naltschik ließen sich die Zuständigen mit insgesamt 340.000 Rubel von den Wohnungssuchenden bestechen. Im Ministerium für die Flugzeugindustrie wurde ein großer Schmuggelring aufgedeckt.

Diese in jüngster Zeit aufgedeckten Machenschaften haben ims wieder eirunal auf das Problem der Korruption in der Sowjetunion aufmerksam gemacht.

Es ist oft unterschätzt oder einfach nicht beachtet worden.

Die Anfälligkeit der Sowjetunion für Korruption läßt sich weder mit ähnlichen Erscheinungen im zaristischen Rußland noch mit Vorkommnissen in Westeuropa oder in den USA vergleichen. In den Gesellschaften des Westens ist Korruption eine persönliche Verirrung; hingegen handelt es sich in der UdSSR um ein Phänomen, von dem die sowjetische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erfaßt ist.

Man macht „Podarki" (Geschenke). Das ist die am häufigsten angewandte Bestechungsmethode. Im Austausch gegen eine bestimmte Ware soll eine bestimmte Vergünstigung zu einer bestimmten Zeit von einer bestimmten Stelle gewährt werden.

Zum Mittel der Korruption muß man dann greifen, wenn man eine Geburtsurkunde braucht (offiziell kostet das nichts), sein Kind in einem Kindergarten oder in einer Schule unterbringen will (auch das ist offiziell mit keinen Ausgaben verbunden), wenn es von einer Klasse in die nächste vorrücken soll (was eigentlich eine Frage des Zeugnisses wäre), und wenn man eine Universität (theoretisch ist dazu die Ablegung einer Aufnahmeprüfung erforderlich) oder eine andere höhere Schule besuchen will. Dazu muß man oft hohe Summen aufwenden.

Der Mangel an Konsumgütern und oft auch an gewissen Lebensmitteln läßt die Korruption im Alltag eine noch größere Rolle spielen. Lebensmittel, Textilien und andere Waren, für die starke Nachfrage besteht, werden „na le-wo" (links) verkauft, das heißt, der Verkäufer hält das betreffende Produkt solange unter der Budei, bis sich der Kunde mit einem Geschenk einstellt.

Das zweite - etwas höhere - Niveau der Bestechung wird „Prino-schenje" (Zufuhr) genannt.

Mit dem „Prinoschenje" zahlt der Bürger für das Wohlwollen der Behörden. Mit großen Summen kann man sich tatsächlich den Schutz der Instanzen erkaufen, die einem eigentlich auf die Finger schauen sollten. Die Höhe der Zuwendungen hängt von der Stellung des betreffenden Amtsträgers in der Hierarchie ab. Die Erfahrung des Bestechers, sein Gespür füf „wo" und „wieviel" führen oft zum gewünschten Ergebnis. Dabei können sich Fehler als fatal erweisen.

Am meisten ins Gewicht fällt aber die Korruptheit von höheren Staats- und Parteifunktionären, die ihre Machtbefugnisse zwecks persönlicher Bereicherung mißbrauchen, oft in einem sehr großen Stil. Diese Leute stehen mit der sogenannten „zweiten Wirtschaft" in Verbindung. Damit meint man die Summe der wirtschaftlichen Tätigkeit außerhalb der staatlichen, hierarchisch organisierten und zentral geplanten „offiziellen" Wirtschaft.

In der UdSSR ist jede private wirtschaftliche Betätigung verboten, abgesehen von den winzigen Flecken Land, die „privat" bebaut werden dürfen. Die Anstellung von Personal sowie Ankäufe und Verkäufe auf eigene Rechnung werden als „Spekulation" angesehen und sind ganz offensichtlich ungesetzlich.

Dieses Verbot der privaten wirtschaftlichen Betätigung kann jedoch nicht eingehalten werden. Die häufigen Verknappungen an notwendigen Lebensmitteln und anderen Erzeugnissen bieten im Verein mit den immer krasser werdenden bürokratischen Unzulänglichkeiten des staatlich betriebenen Verteilungssystems der „zweiten Wirtschaft" gewaltige Chancen.

Immer mehr „Untergrund-Unternehmer" werden auf dem Markt aktiv. Das sind sowjetische Bürger, die in einem beträchtlichen Ausmaß die Produktion fördern und organisieren, wobei sie Arbeitskräfte einsetzen und sich das Material und die Maschinen auf dem Schwarzmarkt beschaffen. Sie investieren ihr eigenes Kapital und nehmen Teilzeitarbeiter auf, die in der Regel einen fünfmal oder gar siebenmal höheren Lohn als bei den Staatsunternehmen bekommen.

Bei den Produkten dieser „Untergrund-Unternehmer" handelt es sich vor allem um Konsumgüter wie zum Beispiel Kleidungsstücke, Schuhe, Haushaltsartikel, Modeerzeugnisse, Textilien, Blue Jeans, Lederwaren und elektrische Geräte.

Private Unternehmer züchten auch Pelztiere, verkaufen Obst und Gemüse aus dem Süden der UdSSR und transportieren mit Lastautos Waren von Stadt zu Stadt. Es hat mehrere Fälle gegeben, in denen Privatunternehmer Güterwaggons durch Abzweigung in ihre Dienste stellen konnten, ja, es wurden sogar Flugzeuge gechartert. Das sind erste Anzeichen eines anscheinend bereits im Entstehen begriffenen Netzes, das private Unternehmer in verschiedenen Teilen des Landes miteinander verbindet.

Die in dieser „zweiten Wirtschaft" Tätigen müssen viel Kapital aufbringen, noch dazu ständig unter dem Druck der Angst, daß man ihnen auf die Schliche kommen und sie wegen „Wirtschaftsverbrechen" — wie man das in der Sowjetunion , nennt — bestrafen wird. Trotzdem können sie in vielen Fällen ihre Aktivitäten längere Zeit aufrechterhalten, wobei sie einen Teil ihrer Profite zur Bestechung der zuständigen Funktionäre des Staates und der Partei verwenden. Besonders anfällig für Bestechungen sind Funktionäre des Ministeriums für die Bekämpfung von Diebstählen sozia-hstischen Besitzes (OBKHSS).

Es versteht sich von selbst, daß diese „Herren von der zweiten Wirtschaft" eine Änderung der Lage dahingehend herbeiführen wollen, daß ihre privaten Operationen ganz offiziell legalisiert werden — nach dem Vorbild von Lenins „Neuer Wirtschaftspolitik" (NEP. siehe Stichwort Seite 2).

Dieses Streben nach Legalisierung trifft zeitlich mit dem Wunsch einer immer größeren Anzahl von Nomenklatura-Mitgliedern zusammen, zu Privatbesitz zu kommen.

Es ist seine Angst vor der zunehmenden Wechselwirkung zwischen der politischen Nomenklatura und den in der „zweiten Wirt-sįiaft" Tätigen, die Generalsekretär Andropow dazu bewogen hatte, mit Erklärungen das Startsignal für die Kampagne gegen die Korruption zu geben. Schon nach einigen Wochen intensiver Anklagen, verbunden mit Degradierungen und Verhaftungen, kam aber diese Kampagne zu einem Stillstand.

Im sowjetischen Machtapparat gibt es offensichtlich ernst zu nehmende Kräfte, die ihre Positionen gefährdet sehen und stark genug sind, den Kampf gegen die Korruption abzublocken, dies sogar dann, wenn Generalsekretär Juri Andropow persönlich ihn organisiert und leitet.

Der Autor, geboren in Wien, kam mit H Jahren nach Moskau, wo er an der Komintern-Schule ausgebildet wurde. 1945 begleitete er den KP-Führer Walter Ulbrich nach Berlin, flüchtete wegen der stalinistischen Auswüchse aber 1949 aus der DDR nach Jugoslawien. Leonhard unterrichtete an zahlreichen englischen und amerikanischen Universitäten und lebt heute in der Bundesrepublik.

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