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Produkte des Widerspruchs

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Kommt in der Sowjetunion der Aufstand der Massen? Bedeutet ein Scheitern Gorbatschows das Aus für sämtliche Reformen? Der Perestrojka-Prozeß scheint unumkehrbar geworden.

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Kommt in der Sowjetunion der Aufstand der Massen? Bedeutet ein Scheitern Gorbatschows das Aus für sämtliche Reformen? Der Perestrojka-Prozeß scheint unumkehrbar geworden.

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Die Frage, wie lange sich Gorbatschow noch halten und ob sein Reformprogramm gelingen wird, hat mit dem Aufstand der Teilrepubliken Litauen, Lettland, Estland, Armenien, Georgien, den nationalistischen Umtrieben allerorts und den ersten großen Streikwellen der Arbeiterschaft eine neue Dimension bekommen.

Ein Scheitern des aus dem „modernistischen“ Flügel der herrschenden Bürokratie stammenden Gorbatschow muß zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr notwendig das Scheitern des gesamten gigantischen Reformwerkes bedingen.

Mittlerweile brennen in der Sowjetunion nicht mehr bloß die Reformlunten, an mehreren Stellen, auf mehreren Gebieten - oft gleichzeitig - hat es bereits ganz gehörige Brande gegeben.

Deswegen dürfte auch die Frage, wie man Gorbatschow helfen könne, jetzt schon falsch gestellt sein. 'Muß es doch darum gehen, unterschiedliche Bestrebungen zu qualifizieren, Fraktionen zur Kenntnis zu nehmen - und die Spreu vom Weizen zu sondern.

Soll man deswegen - wie William Saure in der „New York Times“ meint - Gorbatschow alles Gute wünschen und darauf warten, daß ihn die schlimmen Umstände zwingen werden, das zu tun, was der Westen wünscht; nämlich das gegenwärtige Sowjetsystem abzuschaffen und die Kontrolle aller gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sogar privaten Bereiche durch den Kreml zu beenden?

Wenn man, wie Ernest Mandel, Politologe an der Freien Universität Brüssel, „Gorbatschow und seine Bewegung nicht als Auslöser, sondern eher als Antwort auf all jene Widersprüche“ begreift, „von denen die Sowjetgesellschaft nach Stalins Tod zunehmend geprägt wurde“, wird einem klar, daß das Veränderungspotential in der Sowjetunion bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist.

„Gorbatschow und seine Bewegung sind Produkte des Widerspruchs zwischen den progressiven Kräften und den konservativen Strukturen der Sowjetgesellschaft“, schreibt Mandel in seinem neuesten Buch „Das Gorbatschow Experiment“. Davon- so der Autor- zeuge „eine genuine Systemkrise, die sich seit Jahrzehnten angebahnt hat und die mit einem nahezu konstanten Rückgang des Wirtschaftswachstums sowie mit sozialem Elend einherging. Diese Krise wird seit mindestens zehn Jahren in mehreren Kleinstmilieus der Gesellschaft erkannt. Ganz allmählich bildet sich eine öffentliche Meinung heraus, die aber noch keine klare Alternative zur Politik der Parteispitze formuliert hat.“

Doch Widersprüche bleiben bestehen. Auch der zwischen Glasnost und Perestrojka. Je mehr Offenheit und Transparenz, desto mehr werden die Massen in der Sowjetunion die „ Chancen zur Artikulation ihrer Erwartungen, ihrer Ansprüche und ihrer Unzufriedenheit nutzen“ und mit Massenaktionen das System erschüttern. Streiks und Formen der Selbstorganisation, die Gorbatschow mit dem Rückgriff auf die Sowjets (Räte) als Rettungsanker noch in den Griff bekommen will, werden nach Mandel in der Sowjetunion zunehmen.

Wohin treibt also die Sowjetunion unter Gorbatschow? E ine Restauration des Kapitalismus klammert der Autor aus. Aber: „Die Perestrojka wird gelingen, wenn der Widerstand und die Sabotage der konservativsten Bürokraten neutralisiert und der Apparat durch Glasnost und Verjüngimg der Kader zunehmend erneuert werden können-, wenn das Experiment Gorbatschow nicht blockiert, sondern vorangetrieben wird und aus dem Westen weiterhin Kredite fließen.“

Eine zweite Möglichkeit wäre ein „Moskauer Frühling“ mit Akzeptanz Gorbatschows als des im Vergleich mit einer Revolution von unten geringeren Übels. Mandel meint, daß diese Variante wahrscheinlicher wäre als die erstgenannte. Aber auch ein Scheitern Gorbatschows würde zu keiner Rückkehr zum Status quo ante führen. „Zu viele Kräfte wurden entfesselt...“

Schließlich bleibt noch die Möglichkeit einer wahren politischenRe-volution der Massen, die die Parole , Alle Macht den Sowjets“ beim Wort nehmen. Von dieser Veränderung durch die Massen mit dem Endziel einer echten sozialistischen Demokratie würde nach Meinung Man-dels eine große Anziehungskraft auch auf die Massen der Welt ausgehen - und die Weltlage verändert werden. Hat dieser Prozeß nicht schon längst begonnen?

Es lohnt sich, Ernest Mandela Analysen, die nicht selten unbequem sind, gründlich zu studieren. Vieles wird klarer, auch wenn Prophezeiungen nicht zum Gewerbe eines Politologen gehören.

DAS GORBATSCHOW EXPERIMENT. Von Ernest Mandel. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main 1989.286 Seiten, öS 296,40.

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