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Professorenstreit um K. K,

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Der Jubilar, der sich zeitlebens immer wieder gegen Jubiläumsfeiern ausgesprochen hatte, schien über der Veranstaltung zu schweben und sie als Revanche in seinem Sinne zu lenken. Denn die Teilnehmer dieser abschließenden Podiumsdiskussion der Karl-Kraus-Woche, die die österreichische Gesellschaft für Literatur zu Ehren des sarkastischen Gesellschaftskritikers durchgeführt hatte, polemisierten gegeneinander mit ätzender Schärfe und mehr emotionellem Engagement, als der Sache zuträglich war.

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Der Jubilar, der sich zeitlebens immer wieder gegen Jubiläumsfeiern ausgesprochen hatte, schien über der Veranstaltung zu schweben und sie als Revanche in seinem Sinne zu lenken. Denn die Teilnehmer dieser abschließenden Podiumsdiskussion der Karl-Kraus-Woche, die die österreichische Gesellschaft für Literatur zu Ehren des sarkastischen Gesellschaftskritikers durchgeführt hatte, polemisierten gegeneinander mit ätzender Schärfe und mehr emotionellem Engagement, als der Sache zuträglich war.

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Da ziehen honorige Universitätsprofessoren einander wechselseitig der Ignoranz, da wurde mit Verhöhnungen nicht gespart, da buhte und applaudierte das Publikum leidenschaftlich wie auf einem Sportplatz. Wenn auch keine der ausgefochtenen Meinungsverschiedenheiten, die sich am Phänomen Karl Kraus entzündet hatten, zu einem Ergebnis führte — wie denn auch, bei soviel subjektiver Aggressivität und Intoleranz — sie ehrten den gnadenlosen Spötter durchaus in seinem Sinne.

Indem sie stritten, bewiesen die Karl-Kraus-Fachleute, daß Kraus 38 Jahre nach seinem Tod noch immer kein totes Forschungsobjekt ist, daß er auf Grund seiner Widersprüchlichkeit auf der einen Seite und seiner rücksichtslosen Konsequenz auf der anderen noch immer zur subjektiven Auseinandersetzung, zur Parteiergreifung pro oder kontra zwingt, ynd so konnte man die Aussagen, die die bundesdeutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscher-Uch über Karl Kraus in ihrem Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe gemacht hatte, plötzlich auf die Diskussionsteilnehmer und, soweit man Kollektivreaktionen beurteilen kann, auch auf das Auditorium anwenden. Frau Mitscherlich leitete aus einer übertrieben starken Mutterbindung, die durch ein sehr bald nach Karl Kraus geborenes zehntes Geschwisterkind nicht ausgelebt werden konnte, das Psychogramm eines extremen Egozentrikers mit starken masochistischen Zügen ab; und tatsächlich war ja bedingungslose Subjektivität das hauptsächliche Prägungsmerkmal des schriftstellerischen Wirkens von Karl Kraus.

Und da diskutierten sie, die Mini-Krause und befetzten sich dem Karl Kraus zu Ehren, daß er seine helle Freude daran gehabt haben müßte. Fazit: Das Karl-Kraus-Bild ist durch aus nicht so gesichert und abgerundet oder gar geklärt, wie viele der Teilnehmer vor dieser Karl-Kraus-Wo-che unabhängig voneinander behaupteten. Dabei vermittelten die verschiedenen Vorträge dieser Veranstaltungsreihe durchaus noch den Eindruck eines runden Bildes.

Vor allem der umfangreiche Briefwechsel zwischen Karl Kraus und Sidonie von Nädherny, der erst kürzlich aufgefunden wurde und der Forschung wichtige neue Aufschlüsse über den Privatmenschen Karl Kraus gegeben hat, schien Freunde und Verächter des Aphoristikers zusammenzuführen. Es schien, als fände man über den Privatmenschen einen Weg zu seinen so widersprüchlichen Urteilen, die er oft zu vollkommen nichtigen Themen abgab. Man schien endlich soweit zu sein, dem großen Literaturkritiker, der unter anderem als erster in diesem Jahrhundert die Genialität Nestroys erkannte, zu verzeihen, daß er auf der anderen Seite zum Beispiel Heine, Hofmannsthal und Schnitzler nicht nur einfach ablehnte, sondern auch noch mit seinem beißenden subjektiven Spott bedachte. Man schien begriffen zu haben, daß Kraus, obwohl er die Verlogenheit des Wienertums gnadenlos bloßstellte, diese Stadt als geistigen Nährboden geradezu brauchte. Genauso wie er es geradezu genoß, daß er von dieser Stadt größtenteils mit demselben subjektiven Haß geächtet wurde, wie er ihn ihr ins Gesicht spie, daß man hier „Die Fackel“, in der er zu den verschiedensten Themen auf seine intellektuell geschliffene Art provokant polemisierte, daß man dieses bedeutendste zeitkritische Werk der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Wien nur in Trafiken kaufen konnte, wie die von ihm gegeißelten journalistischen Machwerke, daß man seine Rezitationsabende, in denen er — eine Mischung aus Abraham a Sancta Clara und Savonarola — in pathetischem Stil seine Pamphlete verlas, fast ignorierte.

Es schien auch, als habe man zu interpretieren gelernt, daß viele überspitzte Definitionen, die eben auf seine schrankenlose Subjektivität zurückzuführen sind, unter Abzug der ichbezogenen Darstellungsweise auf Grund seines messerscharfen Intellekts Aufschlüsse vermitteln, die kein anderer, noch so objektiver Zeitgenosse bieten kann. Man schien zu verstehen, daß dieser extreme Egö-zentriker eben zu Schematisierungen

verleitet wurde, wie zum Beispiel, daß sprachlicher Purismus und Ethos einander wechselweise bedingen. Vor allem aber schien man sich mit der Widersprüchlichkeit des politischen Kommentators und Propheten Karl Kraus arrangiert zu haben. Man schien bewältigt zu haben, daß eben ein und derselbe Mensch in seiner Jugend als Analysator der Geschehnisse vor und während des Ersten Weltkrieges Prophetien und Einblicke von beklemmender Richtigkeit bot und trotzdem im Alter politische Fehlurteile von erschreckender Tragweite produzierte.

Und am Politiker Karl Kraus entzündete sich denn auch das Streitgespräch, als Georg Knepler aus Ost-Berlin, der früher der musikalische Begleiter von Kraus auf dessen Vortragstourneen war, ausgehend von einigen geschickt ausgewählten Originalrezepten, behauptete, Kraus sei ein Kritiker und deshalb ein Feind der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gewesen. Diese Veranstaltungsreihe jedoch hätte versucht, ihn wieder in eine bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, der er nie angehören wollte. Hans Weigel klärte zunächst auf, daß Kraus in jungen Jahren wohl einen theoretischen Sozialismus favorisierte, die Nutzanwendung durch den Bolschewismus aber immer wieder ablehnte. Erich Heller aber, Professor in Chicago, polemisierte dann vehement gegen Knep-lers These mit Krauszitaten, die nachweisen sollten, daß Kraus die Berliner Mauer und die Besetzung der Tschechoslowakei leidenschaftlich bekämpft hätte.

Und das war ja das Auffallendste an dieser Diskussion: Alle zitierten sie Kraus, und trotzdem war jeder gegen jeden. Nichts kann die vitale Widersprüchlichkeit des Denkers und Dichters Karl Kraus besser illustrieren, als daß man mit seinen Äußerungen in einem Streitgespräch die gegensätzlichen Auffassungen belegen kann. Und so ist der Aufruf von Professor Helmut Arntzen aus Münster, doch endlich die Polemik um Karl Kraus zu beenden und spät, aber doch, zu beginnen, sein Werk leidenschaftslos zu rezipieren, genauso zu bejahen wie die Auffassung von Marcel Reich-Ranicki, Professor in Tübingen, der betonte, ihm seien Krausadepten so suspekt wie dessen Verächter, aber man müsse erkennen, daß der wesentlichste Gewinn am Phänomen Karl Kraus aus den Fehlern, dem heilsamen Gift, wie er es nannte, zu ziehen sei. In der Diskussion freilich bekämpfen sich die beiden bundesdeutschen Professorenkollegen auf das heftigste. Dabei meinten sie beide — wenn schon nicht dasselbe — so doch Karl Kraus.

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