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„Proletkult”

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Vor zehn Jahren sah ich in Laibach eine Gruppe von sechs bis sieben jungen Männern in grauem Anzug mit netten Krawatten und zusammengerollten Regenschirmen — englische Gentlemen der jungen Generation war mein erster Eindruck. Ich fragte sie nach einer Straße. Es waren Slowenen. Studenten. Ich stellte eine weitere, sehr persönliche Frage: „Wir wollen junge Herren sein!” erklärte mir einer. „Und nicht Proletarier!” So stehen die Dinge im Osten. Und im Westen?

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Vor zehn Jahren sah ich in Laibach eine Gruppe von sechs bis sieben jungen Männern in grauem Anzug mit netten Krawatten und zusammengerollten Regenschirmen — englische Gentlemen der jungen Generation war mein erster Eindruck. Ich fragte sie nach einer Straße. Es waren Slowenen. Studenten. Ich stellte eine weitere, sehr persönliche Frage: „Wir wollen junge Herren sein!” erklärte mir einer. „Und nicht Proletarier!” So stehen die Dinge im Osten. Und im Westen?

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Proletkult ist die heute kaum mehr übliche Abkürzung für proletarische Kultur” im sowjetischen Jargon, wir aber benützen diesen Ausdruck etwas willkürlich für den Kult des Proletenhaften. Hierbei ist zu bemerken, daß der Prolet beileibe nicht der Proletarier, der hungrige Arbeiter von gestern ist, der, von seinem Elend getrieben und demagogisch bearbeitet, auf die Barrikaden stieg. Nein, wir reden ganz einfach über den seelisch gemeinen Menschen ordinärer Gesinnungsart und ebensolchen Umgangsformen. Ein Proletarier gehört den Unterschichten an, ein Prolet könnte selbst auf einem Thron sitzen oder Präsident sein. Dabei darf allerdings die Etymologie des Wortes ,Prolet’ nicht verschwiegen werden:,Prolet’ kommt tatsächlich von ,Proletarier’, wobei aber dem Urbild negative charakterliche Qualitäten angedichtet wurden, die er nicht zu besitzen brauchte. Der moderne Prolet steigt notwendigerweise auf keine Barrikaden, doch liebt er es, Äußerlichkeiten des revolutionären Proletariers nachzuahmen: seine Kleider, seine Redensarten und gelegentlich auch seine politische Phraseologie.

Selten kleinbürgerlichen Ursprungs, rebelliert der junge Adept des Proletkults — ältere gibt es relativ wenige — gegen den tatsächlichen oder angeblichen Konformismus seiner mittelständischen, großbürgerlichen oder adeligen Eltern, wobei er aber mit Blitzesschnelle einem neuen Konformismus verfällt und in den Blue-jeans-Brigaden sang- und klanglos untertaucht. (Blue jeans? Ein Schneider namens Levi, aus Bayern eingewandert, verfertigte sie für die Lokomotivführer im Femen Westen und Cowboys verfielen dann dieser industriellen

Mode.) Unser junger Held protestiert sowohl gegen die Äußerlichkeiten” einer älteren Generation als auch gegen ihre Heuchelei, vergessend, daß die Heuchelei das Kompliment ist, das das Laster der Tugend darbringt. Doch auch gute Manieren und ehrwürdige Konventionen, die doch da sind, um das gesellschaftliche Leben reibungslos zu gestalten, werden von ihm in Acht und Bann getan. Zum Teil tut er dies, weil er die Rolle des Rituals und der Förmlichkeit von der Realität nicht unterscheiden kann. Es endet damit, daß er beides ablehnt: die äußere Form und die innere Wirklichkeit, die doch ideell zusammengehören, was ihn in die wenig erfreuliche Doppelrolle eines humorlosen Protestlers und eines parasitären Faulpelzes hineintreibt. Diese Nieten in Niethosen können sich zwar in Aus- nahmsfällen gelegentlich auf Mord, Totschlag, Revoluzz und. Brandlegung kaprizieren — man sah dies in Paris Anno 68 und bei der Baader- Meinhof-Bande — aber im allgemeinen sind sie eher nur unbequeme und unästhetische Zeitgenossen. Schuld an ihrem Gehaben sind größtenteils ihre Eltern, die es aus humaner Wehleidigkeit nicht wahrhaben wollten, daß der nichtge- schundene Mensch nicht erzogen wird. Das wußten schon die Griechen. Plato beschrieb im VIII. Buch seiner „Politeia” den gesellschaftlichen Zustand des Übergangs von der Demokratie zur Tyrannis mit den Worten: „Der Lehrer fürchtet sich vor den Schülern und schmeichelt ihnen, und die Schüler verachten ihre Lehrer und Erzieher; alt und jung sind sich ähnlich und der junge Mann ist dem alten gleich und ist bereit, sich mit ihm in Wort und Tat zu messen; die alten Männer begeben sich auf das Niveau der Jungen und sind voll Freundlichkeit und Lustigkeit; sie haben Angst, als mürrisch oder autoritär zu gelten und nehmen daher die Umgangsformen der Jugend an.”

Als weiterer Faktor kommt in der heutigen Zeit noch der widerliche Wohlstand dazu. Mitesser blühen nur auf einer fetten Haut!

Nun aber ist es so, daß sich eine Minderheit dieser Jeunesse (die nur materiell dorėe ist) als kühn keifende Kämpfer eines neuen Zeitalters empfindet, während die große Mehrheit sich als hilfloses Opfer — the beat generation! — eines machtvollen, aber zumeist undefinierbaren Establishments’ betrachtet. In beiden Fällen dient ihnen ein bloßes Klischee des leidenden Proletariers als Vorlage. Doch die passive, maulende Gruppe ist bei weitem die zahlreichere und mit ihren Dummheiten und Unarten fließt sie ohne Demarkationslinie in die breite Masse der Jugend über. Sie betreibt eine Gleichmacherei sui generis und hat eine panische Angst vor dem Auffallen, vor dem Aus-der-Reihe- Fallen im Kreise ihrer Altersgenossen. Ja, sie wollen auch innerhalb der Gesellschaft keine gesonderte Stellung einnehmen, keine irgendwie gearteten Privilegien genießen, keine anderen Akzente setzen (geschweige denn, mit anderem Akzent sprechen): alles, was auf Reinlichkeit, Adrett- heit, Schick, Stand, Schliff, Eleganz, Stil oder Disziplin bezug hat, wird mürrisch abgelehnt oder meckernd verketzert. So breitet sich im nördlichen Deutschland ein neues Schnoddern aus, während im Süden und in Österreich das Mundartlich- Lokale sich peinlich bemerkbar macht und in die oberen Schichten eindringt. Wienerische und alpine Urlaute mischen sich in die Sprache der Gebildeten, wobei die Diphthonge breitgewalzt Unmenschliches erleiden müssen. Nur nicht „distinguiert” (also unterschiedlich) sein! Und dazu kommt der physische Schmutz, die klebrigen überlangen Haare, schwarze Fingernägel, unrasierte Wangen, Hosen, die an die Kostümierung der Fleckerlbajazzos erinnern, Schmuck aus der Spenglerei, Phantasiegürtel aus Guatemala und verdreckte Tennisschuhe. In dieser Haltung steckt jedoch weder Bescheidenheit, noch Mut, sondern lediglich ein Sichgehehlassen, ein Abgleiten in der Richtung des geringsten Widerstands, ein müd resigniertes Aufgeben aller Ambition („Ehrgeiz ist bürgerlich!”). Von einem echten Aufstand ist da zumeist keine Rede, sondern nur von - Indolenz, Faulheit und das vom Herrn so scharf gerügte „Vergraben der Talente”. „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben…” Keine Spur! Selbst die finsteren Horden von akademisch gebildeten Politologen, Soziologen, Psychologen geben sich mit ganz subalternen Laufbahnen für den verachteten Vater Staat zufrieden, dieser „Muttergottheit mit ungezählten Brüsten” (A. Mitscherlich).

Dabei ist allerdings zu bemerken, daß der typische junge Mann von heute nicht mehr davon träumt, ein Alexander, Napoleon, Edison, Ignatius oder Lindbergh zu werden, sondern zumeist nur mehr die Pensionsberechtigung im Auge hat. Welcher Junge möchte heute schon General, Bundesbankpräsident, Industriekapitän oder selbst Kosmonaut werden? Wen locken schon die immer noch großen Möglichkeiten in der immer noch freien Wirtschaft? Harte und härteste Arbeit, Verantwortung, Wettbewerb? Wer will das heute? Diese abdizierten jungen Männer schauen demgemäß oft nicht wie Männer aus, sondern wie verwahrloste Mädchen, die man gerade aus einer Besserungsanstalt entließ — wenn nicht wie Gespenster, den Seiten des verblichenen „Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen” entstiegen. Zur Geschlechtsbestimmung hilft da manchmal nur eine mam- male Inspektion oder ein Schlotterbart, der aber wieder nur da ist, um einem ausdruckslosen und inhaltsleeren Gesicht einigermaßen einen Charakter zu verleihen.

Doch unsere proletkultischen Jungen „existieren” nicht einmal im engeren Sinn des Wortes. „Existo” heißt „ich stehe heraus, ich steche hervor”. Doch vielleicht ist es das üble Erbe einer üblen Vergangenheit, daß die Jugend nicht mehr durch Qualität oder durch Eigenart hervorstechen will. „Bene vixit qui bene latuit — gut hat jener gelebt, der sich gut versteckt hat.” Die Klugen — die Feigen? — wollen sich nicht hervortun, wollen sich nicht auszeichnen. (Höchstens im Sport. Aber was ist Sport heute? Da werden die Fettmassen mit dem Skilift hinaufgezogen und ratsch geht es hinunter. Hinauf. Hinunter. Hinauf. Hinunter.) Man will im Sumpf der großen Kollektivität einer völlig ungegliederten Gesellschaft versinken, ohne rechte Bindungen, wie ein

Maulesel, ohne Stolz auf die Vorfahren und ohne viel Hoffnung auf Nachkommenschaft. (Nachkommen? Für die gibt es die „Fristenlösung”.) Man lebt vielleicht ohne Standesdünkel, aber sicherlich auch ohne besondere Liebe für das einfache Volk, denn der Proletarismus in unserem Proletkult ist kein mystischer Populismus, wie einst jener der Narodniki, sondern nur verschlampte Dekadenz. (Die Arbeiter? Die Jungarbeiter? Sie haben nur Verachtung für diese bürgerliche Verkommenheit, denn sie durchschauen mühelos die skurrile Mimikry.) Das Bedenkliche an diesem Phänomen ist jedoch das kommende Fehlen der Leitbilder im anti-elitären Krampf.

Vergangen sind die Zeiten, da ein Karl V. auf seinen Reisen stets in einer schnellgezimmerten Laube aß, damit sein Volk sehen könne, was gute Tischsitten seien. Das bereitete ihm sicherlich kein Vergnügen, aber noblesse oblige. Als Monarch hatte man den Ton anzugeben. Doch gute Manieren sind vielleicht „undemokratisch”, und anscheinend haben sie auch keinen kommerziellen Wert. („Was kauf ich mir schon dafür?” fragt der moderne Jüngling mit bovinem Augenaufschlag.) Man lebt eben im Zeitalter materialistischer Sachlichkeit und scheut alle „Mehrkosten”, wie auch Bemühungen, die vielleicht ästhetisch wirken, aber nichts „einbringen”. So fühlt vielleicht manch junger Mann, der wie ein schlecht dressierter Orang-Utan aus einem sechstrangigen Wanderzirkus im Lehnstuhl lümmelt und vergeblich nach einem Tisch für seine Füße Ausschau hält. „Aber, er ist so ehrlich!” seufzt die gerührte Frau Mama. „Er sagt, was er denkt!” Er denkt jedoch gar nicht, denn das würde ihn viel zu sehr anstrengen; er wiederholt das, was er gehört hat.

Wie erschreckend oft sehen wir heute die Söhne und Töchter unserer Leitsterne in Politik, Wirtschaft und Kultur tief verstrickt im Proletkult — und die Eltern versuchen mit einem verlegenen Lächeln achselzuckend irgendwie „mitzumachen”. Arme Spießer! Sie neiden ihnen das Jungsein. (Arme Jugend! Wenn sie wüßte, daß ihnen das Leben rein gar nichts schuldet oder schenkt, da es lediglich eine strenge Prüfung mit wenigen Lichtblicken ist. Da nützt auch das „Abdanken” nichts.) All diese Haltungen versprechen den Sieg der Mittelmäßigkeit, wenn nicht der Unterwertigkeit. So hat der Abstieg in vollem Umfang begonnen.

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