6816672-1973_13_05.jpg
Digital In Arbeit

Promotionsurkunde oder Gewerbeschein?

Werbung
Werbung
Werbung

Selbst wenn alle Ärzte politisch und weltanschaulich indifferent wären, was freilich eine völlig irreale Vorstellung ist, würden viele von ihnen durch die Legalisierung der „Fristenlösung“ in schwere Konfliktsituationen gebracht. Denn die Abtreibung wäre dann wahrscheinlich die einzige Operation, die der Arzt durchzuführen hätte, ohne nach Motiven und Zweckmäßigkeit zu fragen. Denn immer, wenn ein Patient zum Arzt kommt, um sich operieren zu lassen, stellt der Arzt sich selbst und oft auch dem Patienten die Frage nach Grund und Zweckmäßigkeit des Eingriffes — er ist in jedem Falle mehr als der Erfüllungsgehilfe, den man mit der Antwort, man könne über seinen eigenen Körper nach Belieben verfügen, abspeisen kann.

Man muß nicht gleich an so um-sibrittene Operationen wie Sterilasie-rung, Geschlechtsumwandlung usw. denken — das Mitentscheidungsrecht des Arztes wirkt sich heute schon in der Alltagspraxis jedes Arztes aus, beginnend bei der simplen Verweigerung eines Medikamentes, von dem der Patient gehört hat, das der behandelnde Arzt aber nicht für zweckmäßig hält, bis zur Entscheidung des Chirurgen, beispielsweise die von einem ängstlichen Patienten gewünschte Narkose bei einem Eingriff zu verweigern, weil er der Überzeugung ist, daß durch die Beschränkung auf lokale Betäubung der Heilungsverlauf begünstigt wird.

Auch in der Abtreibungsfrage würde durch die „Fristenlösung“ einem solchen Entscheidungs-, fallweise auch Verweigerungsrecht des Arztes vorgegriffen, denn die juristische Grenzziehung, derzufolge eine Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt, nachher ein strafwürdiges Unrecht sein soll, wäre eine juristische Präjudizierung der individuellen ärztlichen Entscheidung und würde damit den Arzt in unzumutbarer Weise degradieren. Bekanntlich steigt die Todesrate bei Abtreibungen um die zwölfte Schwangerschaftswoche auf das Fünffache und auch die Komplikationsrate steigt nach diesem Termin rapide — aber welcher Arzt kann akzeptieren, daß der Gesetzgeber seinen aus diesen eiskalten statistischen Rechnungen resultierenden juristischen Entscheidungen allgemeine medizinische Geltung verschafft?

Vor allem aber ist es Sache des Arztes, vorzubeugen und zu heilen. Er leistet auch Sterbehilfe: Hilfe beim Sterben, etwa mit schmerzstillenden Mitteln, aber niemals Hilfe zum Sterben. Er kann nicht ein Leben beenden. Nicht beim Alten, nicht beim Unheilbaren, nicht beim mißgebildeten Kind und nicht beim Ungeborenen.

Dabei ist doch wirklich einiges geschehen; man hat die Pille entdeckt und ist dabei, die Ovulationshemmer so zuträglich und ungefährlich wie möglich zu machen. Man beobachtet die Nebenwirkungen aller empfängnisverhütenden Maßnahmen. Der durch die Ärzte bewirkte Fortschritt ist gewaltig.

Man sagt uns Ärzten, die Strafrechtsreform müsse fristengerecht fertigwerden. Man biete uns statt der medizinischen lieber eine juristische Fristenlösung. Warum läßt man uns Ärzten, Pädaigogen und Sozialhelfem nicht einige Jahre Zeit? Wahrscheinlich wird sich die Situation bis dahin so gewandelt haben, daß die Strafbestimmungen bleiben könnten, weil sie nur noch ausnahmsweise anzuwenden wären, im wesentlichen nur gegen gewerbsmäßige Abtreiber und gegen Unbelehrbare, deren Rückfälligkeit, Rück-

Arzt, Patientin (bei einer Abtreibung in London): Mehr als Erfüllungsgehilfe? Photo: Archiv siehtslosigkeit und Indolenz sie zu Sozialschädlingen stempelt.

Sonst wäre es nämlich möglich, daß die Beratungsstellen für Mütter und Schwangere und die Stellen für Familienplanung unterbeschäftigt sein werden — während werdende Ärzte die Gynäkologie medden, um nicht in die Lage zu geraten, eines Tages nachsehen zu müssen, ob man ihnen eigentlich eine Promotionsurkunde — oder einen Gewerbeschein überreicht hat...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung