6951524-1984_14_08.jpg
Digital In Arbeit

Prophet, Denker und Politiker

Werbung
Werbung
Werbung

In der Deutschen Verlagsanstalt erschien in diesem Frühjahr Karl Pisas jüngstes Buch: „Alexis de Tocqueville, Prophet des Massenzeitalters"; gleichsam ein Geburtstagsgeschenk, das sich der Autor, der am 26. März sein 60. Lebensjahr vollendete, selbst zugedacht hat.

Der politisch interessierte oder gar aktive Durchschnittsbürger weiß eigentlich wenig über diesen französischen Denker und Politiker aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Bekannt ist uns Tocqueville am ehesten noch durch sein um 1830 erschienenes Buch über „Die Demokratie in Amerika", durch das er in noch jungen Jahren mit einem Schlage berühmt wurde.

Umso dankenswerter ist es, daß Karl Pisa nun die erste deutsche Biographie, wohldokumentiert und brillant geschrieben, vorlegt. In einem verhältnismäßig schmalen Band entsteht nicht allein ein faszinierendes Lebensbild Toc-quevilles. Zugleich werden die Hauptphasen und Figuren von drei Revolutionen (1789,1830 und 1848) spannend beschrieben, die Vorbilder und Mentoren aus der Familie (Tocquevilles Vater, Onkel Chateaubriand, Urgroßvater Malesherbes) und aus der französischen Geistesgeschichte Pascal, Montesquieu und Rousseau treffsicher dargestellt.

Pisas besonderes Interesse gilt aber den politischen und geistigen Grundanliegen Tocquevilles: Was er über Amerika geschrieben habe, sei an Frankreich adressiert gewesen, kein zur Nachahmung empfohlenes Beispiel, sondern eher eine Warnung davor, wie man es nicht machen soll.

Ein weiteres Grundanliegen Tocquevilles ist nach Pisa die Versöhnung von in der Demokratie vorherrschenden Gegensatzpaaren, wie es Ordnung und Freiheit oder Freiheit und Gleichheit nun einmal sind. Er bedauerte zutiefst, „auf der einen Seite Leute stehen zu sehen, welche Moral, Religion und Ordnung schätzen, und auf der anderen diejenigen, welche die Freiheit lieben und die Gleichheit vor dem Gesetz... Denn alle diese Dinge, die wir trennen, sind in den Augen Gottes untrennbar vereint."

Wie steht es mit der Tocqueville oft nachgesagten Prophetengabe? Pisa geht auch dieser Frage gründlich nach, vor allem jener Äußerung über die Vereinigten Staaten und Rußland, wonach jeder der beiden Staaten „nach einem geheimen Plan der Vorsehung dazu berufen scheint, eines Tages in seinen Händen die Geschichte der halben Welt zu halten".

Diese Aussage resultiert nicht aus einer mystischen Eingebung, sondern geht auf eingehende Gespräche mit amerikanischen Staatsmännern und Diplomaten zurück, wie etwa mit dem amerikanischen Botschaftssekretär in Rußland, Alexander Everett, der in einer Buchpublikation schon lange vor Tocqueville den Aufstieg der beiden Staaten zu Führungsmächten der Welt vorausgesagt hatte.

Fast noch aktueller scheint uns eine von Pisa eruierte Feststellung Everetts: Europa werde sich einer russischen Herrschaft nur entziehen können, wenn „das Prinzip der Zivilisation von außen, das heißt von Amerika, machtvoll gestützt werden wird".

Zwischen Tocqueville und seinem Biographen drängen sich in ihrer Arbeits- und öffentlichen Wirkungsweise manche Parallelen auf. In einem Memorial sagte Tocqueville: „Ich bin als Denker mehr wert denn als Täter; und wenn jemals etwas von mir in dieser Welt übrigbleiben sollte, so wird es eher die Spur dessen sein, was ich geschrieben habe, als die Erinnerung an das, was ich politisch geleistet habe."

Für Pisa gilt im Grunde dasselbe: Als Vordenker und Vorplaner für Grundsatzprogramme und Arbeitskonzepte, als „Mister Texter", wie ihn Drimmel scherzweise gerne titulierte, als Architekt der Politischen Akademie der österreichischen Volkspartei, als Ghostwriter dreier österreichischer Bundeskanzler hat Karl Pisa eine Generation lang Politik als Wissenschaft getrieben, ehe es dafür Lehrkanzeln und Buchtitel gab. Pisa hat im Sinne Tocquevilles auf seine Weise „Einfluß auf das politische Denken" der Menschen im allgemeinen und der Politiker im besonderen genommen.

Mit seinem Buch über „Alexis von Tocqueville" hat Pisa erneut bewiesen, daß er unglaublich viel mehr kann als Reden schreiben und Programme machen. Aber auch dafür sei ihm heute — stellvertretend auch für meine beiden Vorgänger Julius Raab und Al-phons Gorbach — gedankt.

ALEXIS DE TOCQUEVILLE. Ein Prophet des Massenzeitalters. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1984.224 Seiten, geb., öS 232,50.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung