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Prosa — lyrisch und logisch

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Der 1906 in Pommern geborene, in Masuren aufgewachsene und vielgereiste Wolfgang Koeppen ist ein schwieriger Fall in der deutschen Gegenwartsliteratur. Nach dem Krieg, erst 1951, erschien sein erstes Buch, das Aufsehen machte: „Tauben im Gras“ — Bilder aus dem Münchner Alltagsleben der Nachkriegszeit, 1953 folgte „Das Treibhaus“ — gemeint ist der Bonner Bundestag, und im Jahr drauf erschien das bitterste Buch Koeppens „Der Tod in Rom“. Neben den Romanen und Erzählungen Heinrich

ZÜNDSCHNÜRE. Roman von Franz Josef Degenhardt. Verlag Hoffmann und Campe. 249 Seiten.

Der Roman schildert in 26 Kapiteln den Alltag 1944/45 aus dem Blickwinkel von Fänä Spormann und seinen Kumpanen. Fänä Spormann und seine Freunde sind vaterlose dreizehn- bis vierzehnjährige Jungen, die Wein stehlen, Spreng-material und Waffen transportieren, Fußball spielen und philosophieren, Schnaps trinken, Flugblätter verteilen, und eine Hochzeätsfeder veranstalten, um nur einige der Kapitel dieses offenen und mutigen, lustigen und verschmitzten Buches zu nennen.

*

IN LIEBE DEINE RANDI. Roman von Lise Gast. Ehrenwirth-Verlag, München. 232 Seiten.

Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Die Kinder sind erwachsen, zum Teil verheiratet mit Kindern, der Ehemann Michael ist pensioniert und Randi feiert ihren 60. Geburtstag. Noch immer bemuttert sie die Familie und nimmt leidenschaftlichen Anteil an den Problemen ihrer Lieben. Dabei kommt Michael, der Ehemann, zu kurz. Er zieht sich vom Familientrubel zurück und Randi fürchtet, daß er sie nicht mehr so liebt wie früher. Schließlich aber ist er es, der eine gute Lösung für die „alten“ Tage findet.

Hildegard Griebel

Bolls gelten die Koeppens als wichtigste Bestandsaufnahmen und Kritiken des bundesdeutschen Gesellschaftslebens. Dafür wurde Koeppen 1961 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Danach schrieb er die Reisebücher über Amerika, Rußland und Frankreich.

Der vorliegende Band enthält Prosa aus 35 Jahren, und zwar nicht nur erzählende, wie der Untertitel angibt. (Der Autor hat sie absichtlich

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des Rezensenten und wohl auch mancher Leser.) Es beginnt mit einem technischen Bravourstück: einem sich über viereinhalb Druckseiten erstreckenden Satz über das Berliner Romanische Cafe. Gern würden wir ihn reproduzieren, er ist lesens- und hörenswert. Bereits hier sowie in zahlreichen anderen Texten kann man die wichtigsten Anreger Koeppens entdecken: James Joyce, was die erstaunlichen und seltsamen, lyrischen und logischen Assoziationen betrifft — und Andre Gide in

der kontrapunktischen Art der Darstellung.

„Trümmer“, „Melancholia“, „Der Sarkophag der Phädra“, „In meiner Stadt war ich allein“ sind einige charakteristische Titel dieser zugleich präzisen und musikalischen Prosastücke. Wollte man von einer Tendenz sprechen, so könnte man sagen, daß Koeppen immer auf der Seite der Leidenden und Schwachen, die mit dem Leben nicht fertig werden, zu finden ist. Sein Wort, das ausgesprochene und das verschwiegene, wendet sich gegen Macht und Gewalt, gegen Zwänge aller Art, besonders die der Mehrheit und der Massen. Es zieht ihn zu den tragischen und nächtlichen Bereichen des Lebens. Das schließt im Ausdruck Humor, Sarkasmus, Ironie und Witz nicht aus. Als Beispiel zwei kurze Passagen aus der Prosaphantasie in mehreren Teilen mit dem Titel „Anarchie“:

„schöne Stadt reiche Stadt schöne reiche Stadt der schönen reichen Läden wollüstige Stadt der geilen Schaufenster Stadt vergreister Paläste Stadt ererbter Vermögen Stadt der alten Familien fromme Gemeinde der Banken Blutsbrüderschaft des Gewerbes Lyon deine Küchen deine Fleischtöpfe Ägyptens das Rauchopfer deiner Pfannen am Mittag... Stadt der tiefen Schatten Stadt des grellen Lichts Stadt der lebensfrohen Flüsse Le Rhone umarmt La Saone zieht sie in sein Bett in seinen Arm hunderte Brücken um hinabzuspringen Brücken den Freund und den Feind hinunterzuwerfen ...

majestätische republikanische gaullistische Place Bellecour im Scheitelpunkt der Sonne im Spiegelpunkt der königlichen staatlichen Sonne die nicht untergeht Mädchen vom hohen Mittag Mädchen vom Hochzeitstag Mädchen angetraut den klappernden oder lautlosen Maschinen die in Windeseile rechnen schreiben buchen ordnen fernmelden Bräute von den goldenen Telephonen Isoldes Lied von Kontor zu Kontor und zu den Kursen der Börse Seide Halbseide Chemieseide knapp und blumenbunt das Kleid schen-

kelbloß die Arme nackt den Hals ungeknickt eine Göttin aus dem Volk ein Salatblatt in den Mund geschoben ein Milchschluck ein Beat eine Tüchtige kein Mädchen von den Webstühlen eine Renegatin vom Chef bezwungen vom Chef verzau-

bert, der Chef zur Börse der Chef zum Börsenfrühstück...“

ROMANISCHES CAFE. Erzählende Prosa von Wolf gang Koeppen. — Suhrkamp-Taschenbuch, 120 Seiten.

„Das Herz des Menschen erfreut der Wein“ singt schon der Psalmist. Wer aber durch das Weinland Südtirol wandert, den erfreut nicht nur der Wein dieser herrlichen Landschaft, sondern auch das Land selbst mit seinen großen Kunstschätzen, mit seinen Tälern, seinen Weingärten. Dieses Land ist wirklich ein Paradies; und ein Stück Wehmut wird in jedem Österreicher aufsteigen, wenn er daran denkt, daß dieses Land einmal zu Österreich gehörte. Mit um so größerem Interesse wird deshalb jeder, der dieses Land kennt oder die Absicht hat, es kennenzulernen, nach einem wunderschönen Buch greifen, das soeben im Süddeutschen Verlag in München herausgekommen ist und sich „Einkehr in Südtirol“ nennt. (Von Hermann Frass und Franz H. Riedl, 153 Seiten, 53 farbige Abbildungen.) Willy Lorenz

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