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Protest als Mahnung

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Jene gesellschaftliche Bewegung, die man die Neue Linke nennt, bietet das bunteste Erscheinungsbild, wie sie auch nach Ländern und Augenblickssituationen unterschiedlichste Auslöser und Ziele hat. Diese Neue Linke ist eine höchst diffuse, einer klaren politischen Definition nicht zugängliche Hervorbringung unserer Industriegesellschaft, ist Protest sowohl gegen das bürgerliche Establishment wie gegen das der traditionellen Linken, die von dieser Neuen Linken des geheimen Einverständnisses mit der kapitalistischen Ausbeuterwirtschaft beschuldigt wird und auf krausen Wegen und mit oft brutalsten Methoden links überholt werden soll.

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Jene gesellschaftliche Bewegung, die man die Neue Linke nennt, bietet das bunteste Erscheinungsbild, wie sie auch nach Ländern und Augenblickssituationen unterschiedlichste Auslöser und Ziele hat. Diese Neue Linke ist eine höchst diffuse, einer klaren politischen Definition nicht zugängliche Hervorbringung unserer Industriegesellschaft, ist Protest sowohl gegen das bürgerliche Establishment wie gegen das der traditionellen Linken, die von dieser Neuen Linken des geheimen Einverständnisses mit der kapitalistischen Ausbeuterwirtschaft beschuldigt wird und auf krausen Wegen und mit oft brutalsten Methoden links überholt werden soll.

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Das alles ist bekannt genug, denn es werden ‘diesen Erscheinungen von der ständig nach Sensationen jagenden Publizistik sehr intensive, abschon nur selten genug verantwortungsbewußt, Interessen gewidmet. Kommunenwirtschaft, Menschenraub, Sexexzesse, Brandstiftungen, Straßenschiiachten und Pornomeissen, das alles erhält eine Publizität, die darauf abzielt, den braven Bürger das Gruseln zu lehren, so daß ahn der Schock vor solchen Abscheulichkeiten gar nicht bis zu der Frage nach ihren Gründen und Folgen kommen läßt.

So mag es denn provozierend klingen, wenn die Behauptung gewagt wird, daß in der Elite der Neuen Linken beiwedtem nicht nur wüste Zerstörungslust, sondern ein starker amoralischer Impuls am Werke ist Wie wenig (freilich moralische Absicht allein genügt, wenn ihr die Moral der Toleranz und das Wissen fundaamentaler Weltgesetze fehlt, ‘darüber ist kein Wort zu verlieren. Dennoch sollte man sich, sucht man eine ernste und ehrliche Haltung zu diesem Phänomen der Neuen Linken, von den Vordengrund- geschehnissen so weit distanzieren können, daß der Blick frei wird für den Wagemut dieser meist jugendlichen Protestierer. Sie zerstören ‘icht nur, sie opfern auch auf. Sie opfern Existenz, Freiheit, Gesundheit, oft selbst das Laben für ihre Vision einer besseren Welt, und es wäre schwierig, Bespiele gleicher Opferfoereitschaft in der etablierten Indu-triegesellschaft zu finden.

Visionen einer besseren Welt, so wurde gesagt, denn dieses Ringen um ein Leben ohne Ausbeutung, Aufrüstung, Hunger, Elend, Unwissenheit und Krieg, das kommt aus Motiven, die, zumindest im Bewußtsein der Neuen Linken, durchaus moralisch sind und selbst von den erklärtesten Gegnern dieser Bewegung als Gesinnungsmaral und als ein jugendlicher Opferweg verstanden werden sollten. Es ist ein Opferweg der Kritik, einer Kritik, die es freilich noch zu keiner realisierbaren Utopie einer besseren Gesellschaft gebracht, der unseren aber viele ihrer Mängel so eindringlich gezeigt hat, ‘daß die Evolution unseres Soziaisystems schon heute aus ‘der Revolutionisabsicht der Neuen mehr als einen nützlichen Impuls gezogen hat. .

Denn dieser Aufstand gegen die Väterwelt ist es gewesen, durch den ihr Bildungsnotstand recht eigentlich erst in unser Bewußtsein gehoben wurde. Er war es auch, der in den USA die Gesellschaft umweltbewußt gemacht hat. Dieser gleiche Aufstand hat in den USA die Rassenfrage, das Slumsproblem und den Indochinakrieg politisch nicht mehr įgnorier- bar gemacht und in Frankreich, Deutschland und Österreich die Antiquiertheit des traditionellen Hochschuiunterrichts durch monologisierende Kathederpaschas zu einem Politikum ersten Ranges erhoben.

Indem die Studenten der Neuen Linken auf ihre rüde, oft genug terroristische und verbrecherische Art die Politisierung der Hochschulen nach ihren eigenen Ideen verlan gen, halben sie immerhin die Gesellschaft daran erinnert, daß ihre hohen Bildungsanstaltem schon bisher hochpolitisch waren. Daran erinnert, daß sie ein wesentlicher Teil dessen sind, was die Naue Linke „Bewußtseins- industrie“ nennt. Als solche sind diese Hochschulen von dem etablierten Systam in Dienst genommen, um gesellscbaftsbejahendes Bewußtsein ■zu produzieren. Wenn heute darüber geklagt wird, die Hochschülerschaft wolle die Politisierung des Unterrichts, ist das reinste Bewußtseims- manipulation. Denn politisiert war ‘dieser Unterricht stets, und es ist heute nur dahin gekommen, daß die konservative Ausrichtung der Humanwissenschaften von den Hörem nicht mehr kritiklos hingenammen wird. Die Hochschulen sind zum Schauplatz der Konfrontation zweier kontradiktorischer gesellschaftlicher Ideologien geworden.

Es ist gut, daß die etablierte Gesellschaft dadurch aus ihrer geistigen Besitzträgheit und moralischen Selbstbefriedigung aufigescheucht worden ist und zu begreifen beginnt, daß geistige Weiten verteidigt werden müssen, um besessen werden zu können, und daß die Moral einer Gesellschaftsordnung sich gerade vor ihren Gegnern legitimieren muß. Das alles darf man Gewinne nennen, obschon die Methoden der Neuen Linken an den Hochschulen sich meist selbst disqualifizieren.

Erinnern wir uns schließlich noch daran, daß diese gleiche Neue Linke durch ihren fast stets absurden und gewalttätig undemokratischen Aufstand gegen jedwede Autorität, deren Abbau dort, wo er sachmögldch ist, zu einem guten demokratischen Anliegen gemacht und die Schwächen einer Gesellschaftsstruktur gezeigt hat, für die der Franzose das Syimbolwort „papa“ geprägt hat, dann haben wir den ganzen Katalog von Anreizen au wünschenswertester Gesellschaftsrefanm, die wir dieser so gar nicht wünschenswerten Neuen Linken verdanken.

Man hat sich gewöhnt, nichts so sehr zu diskutieren wie die Vorder - grunderscheimingen dieser Protestbewegung, Erscheinungen, wo die Triebfreisetzung der haltlosesten Elemente dominiert, wie das bei jeder Uimsturzbewegung der Fall 1st. Man hat den Blick für die zeitgeschichtliche Bedeutung dieses Geschehens verloren, für das Eigentliche, das unter der Maske von Narretei und Brutalität am Werk ist. Doch wie die Agrarrevolten der frühen Neuzeit durch die Totschlag- kommandos der wildgewordenen Bauern, die Große Revolution durch (Fortsetzung auf Seite 2)

die exzedierenden Fischweiber oder die bolschewistische Revolution durch den Miillionenmord an Kulaken nicht ausgedeutet sind, ist die Neue Linke nicht begriffen, wenn man nur die Kaufhausbramdstifter oder die in Hörsälen öffentlich urinierenden Psychopathen für ihre charakteristischen Vertreter hält. Wie an jede intellektuelle und moralische Kem- schichte eine Umsturzgruppe, lagern sich auch hier Kriminelle, Psychopathen, Narren und bewegunigs- hungrige Triebmenschen aller Art an die Elite der Bewegung an. Sie sind vom Interesse für die Symptomatologie -und Pathologie der Neuen Linken. Die Neue Linke sind sie nicht. Sie sind ein administratives oder sozialmedizinisches Problem, kein Gegenstand kuiitiurkritischer Überlegungen.

Zieht man das Fazit aus dem, was verdeutlicht werden sollte, so ist es dieses: die Neue Linke ist ein Produkt der Industriegesellschaift. Sie ist, genauer gesagt, ein Produkt der Schwächen dieser Gesellschaft, die ein Maximum an Versorgungslei- Sftung mit einem Minimum moralischer Leistungen vereint Die Neue Linke hat es durchaus verstanden, viele dieser Schwächen, die von „Gesetz und Ordnung“ konserviert werden, über die Bewußtseinsschwelle der Gesellschaft zu heben. Der Neuen Linken ist es aber nicht gelungen, moralisch und zugleich materiell realisierbare Utopien einer geläuterten Industriegesellschaft zu entwerfen. Diese Neue Linke ist ein Fieber des Sazialkörpers, und Fieber ist immer das Signal einer Krankheit, ohne selbst Krankheit au sein.

So sollte man auch diese Neue Linke als eine Mahnung verstehen, sich mehr um die Sozialkrankheiten zu sorgen, die sie anzeigt, als um sie selbst, die verschwinden wird, wenn diese Krankheitsherde geheilt sein werden. Man sollte diese Bewegung ernst nehmen als Kritik an unserer Ordnung und als Erinnerung an die. Wünschbarkeit der Reformen. Man dürfte diese Neue Linke freilich nicht als eine Heiiabewegung mißverstehen und schrankenlos gewähren lassen. Das wäre Sozialmasochismus einer übermästeten Wohlstandsgesellschaft und ein Überdrußsignal aus jener Lust am Untergang, die ein so weitverbreitetes bürgerliches Zeitsignum ist.

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