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Prügel zum Geburtstag

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Ob in Karl Marx Stadt, in Plauen, Jena, Dresden, Leipzig oder in Berlin - die Tausenden auf den Straßen demonstrierten: Das Regime in den Händen der SED hat abgewirtschaftet; politisch ebenso wie moralisch. Worum es gehe, sei Erich Honeckers Abtreten vom Herrscherthron und ein vergleichsweise stiller Tod von „denen da oben“.

Auf die Rufe nach „Freiheit“ und „Demokratie“, auf die Parolen „Wir bleiben hier“ und „Ein freies Land für freie Bürger“ folgten Prügelorgien der Stasis und Kampftruppen. Im Westen konnten sie vor dem Fernseher miterlebt werden. Doch wer merkte, daß nicht nur

Verletzte zurückblieben, sondern im Bewußtsein die Erinnerung an die chinesischen Studentenmörder haftete? Ließen denn nicht die greisen Herren Pekings in ihrem Machtwahn gerade dann die Panzer aufmarschieren, als der erste Staatsbesuch eines sowjetischen Staatschefs in China seit Jahrzehnten über die Bühne ging?

Was kommt nun nach dem 40. Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik, der am 7. Oktober in Anwesenheit Michail Gorbatschows und Nicolae Ceausescus in Ostberlin feierlich begangen wurde? „Randalierer rotteten sich am Alexanderplatz zusammen“, lautete am Montag die Schlagzeile im „Neuen Deutschland“. Und die „Volksarmee“ peitschte mit un-überhörbarer Klarheit vor: „Da drängen sich natürlich angesichts der neuesten Entwicklungen Fragen auf: Wollen es die Herrschenden der BRD den Nazis gleichtun oder sie gar noch übertreffen? Gibt es nun eine Neuauflage der Heim-ins-Reich-Bewegung? Und welcher Staat soll diesmal erdrosselt werden?“

Die Situation im zweiten Deutschland ist gespannt. 70.000 haben in der Nacht von Montag auf Dienstag vor der Leipziger Nicolaikirche friedlich eine demokratische Umgestaltung verlangt. Doch das Regime begreift nicht, was „das Volk“ - so die Leipziger Demonstranten - wirklich will.

Heiner Müller, der zur Zeit in Westeuropa meistgespielte DDR-Dramatiker, sagte einmal, daß er ohne die Mauer im Kopf nicht schreiben könne. Honecker, der Mauerbauer, erklärte 1961: „Die DDR hat ihre Daseinsberechtigung, da sie ein sozialistisches Vaterland der Deutschen anstrebt.“ Dem Intellektuellen wie dem selbsternannten Staatsmann glaubt heute das Volk nicht mehr: Es läuft beiden davon.

Mittlerweile, seit Beginn dieses Jahres, reisten mehr als hunderttausend Ostdeutsche über ver-schlungenste Wege zu den anderen Deutschen im Westen: 35.000 spektakulär über bundesdeutsche Botschaften und die ungarisch-österreichische Grenze, 70.000 aufgrund von Ausreiseanträgen oder Familienzusammenführungen.

Diese Flüchtlinge - als „Ausreiser“ und „Kofferpacker“ von denen belächelt oder verdammt, die in ihrer Heimat auf Veränderung drängten - erschüttern die Grundfesten der Arbeiter- und Bauernrepublik in einem Ausmaß, wie es keine der kirchennahen Grüppchen und Dissidentenzirkel bis noch vor kurzem vorauszusehen wagte. Hat gar erst die Fluchtwelle der Unzufriedenheit Vorschub geleistet? Verhalf diese zu den unzähligen Neugründungen informeller Oppositionsgruppen?

Zwar ist das Sammelsurium noch nicht so breit, wie an der Weichsel oder der östlichen Donau, doch was zum politischen Alltag in Warschau und Budapest gehört, schwappt in Flutwellen nun bis nach Rostock.

Da zählt das gerade entstandene „Neue Forum“ bereits 9.000 Mitglieder, da bildete sich eine „Sozialdemokratische Partei“, eine „Linke Alternative“, eine „Bürgerinitiative für demokratische Wahlen“ und regt sich in den Blockparteien wie der Ost-CDU lautstarke Kritik „an* der Bevormundung der Bürger durch eine starrsinnige, reformun-fraundliche Politik“. Da wird die Kirche angefragt, wie sie es denn mit den Zufluchtsuchenden und dem Staat hält, da kritisieren immer mehr Deutsche jenseits und diesseits des Brandenburger Tors die Ostpolitik Bonns.

Denn nicht die Reformkräfte profitierten, die verrottete SED verdiente am Ausreisertreck. Millionen ließ sie sich auszahlen, um die Züge aus Prag und Warschau über den Umweg Dresden ins Bundesgebiet zu lotsen-

Erich Honecker ließ sich seine weltweite Blamage, Herrscher über ein 16-Millionen-Volk zu sein, das nur mehr aus dem „Sozialismus made in GDR“ weg will, mit harter Währung abgelten.

Nicht wenige glauben, damit versuche Ostberlin Zeit zu gewinnen. Während man auf das Scheitern der Umwälzungen in den Nachbarstaaten setzt, ist das Volk hin- und hergerissen: „Gelingt auch uns der befreiende Schritt hin zu Reformen oder werden wir ein China mitten in Europa?“

Es ist eine höllische Angst, die dieser Tage überall in der DDR fühlbar wird, die die Menschen zu Protesten treibt, aber auch zur Verzweiflungstat, der Heimat den Rük-ken zu kehren.

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