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Public Relations genügen nicht

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Die Kernenergiediskussion in der Bundesrepublik hat gezeigt, daß es in der Atomwirtschaft trotz massiver Gegner kein Zurück hinter die Stunde Null gibt. Nicht nur die Technologie, auch fast die gesamte Wirtschaft hat sich auf die Atomkraft gleichsam als auf eine Selbstverständlichkeit eingestellt. Die Auseinandersetzung über die Risiken von Kernkraftwerken ist indes weder unter akademisch-technischem noch unter ökonomischem noch unter politischem Aspekt abgeschlossen. Kürzlich haben in der Bundesrepublik rund 200 Wissenschaftler eine drastische Verlangsamung der Kernkraftwerksplanung gefordert. Das wiederum hat die Befürworter der Kernenergie auf den Plan gerufen, unter ihnen 650 Wissenschaftler. Sie halten die Nutzung der Kernenergie für notwendig und vertretbar. Wenngleich mithin die Gefahrenkalkulationen selbst unter den Experten umstritten sind, ist ihre Mehrzahl in der Bundesrepublik und auch i in den Vereinigten Staaten davon überzeugt, daß die große Kata-stronhe nicht stattfinden wird.

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Die Kernenergiediskussion in der Bundesrepublik hat gezeigt, daß es in der Atomwirtschaft trotz massiver Gegner kein Zurück hinter die Stunde Null gibt. Nicht nur die Technologie, auch fast die gesamte Wirtschaft hat sich auf die Atomkraft gleichsam als auf eine Selbstverständlichkeit eingestellt. Die Auseinandersetzung über die Risiken von Kernkraftwerken ist indes weder unter akademisch-technischem noch unter ökonomischem noch unter politischem Aspekt abgeschlossen. Kürzlich haben in der Bundesrepublik rund 200 Wissenschaftler eine drastische Verlangsamung der Kernkraftwerksplanung gefordert. Das wiederum hat die Befürworter der Kernenergie auf den Plan gerufen, unter ihnen 650 Wissenschaftler. Sie halten die Nutzung der Kernenergie für notwendig und vertretbar. Wenngleich mithin die Gefahrenkalkulationen selbst unter den Experten umstritten sind, ist ihre Mehrzahl in der Bundesrepublik und auch i in den Vereinigten Staaten davon überzeugt, daß die große Kata-stronhe nicht stattfinden wird.

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Die Gesamtversorgung mit Primärenergie in der Bundesrepublik erfolgt derzeit zu rund 96 Prozent durch Erdöl, Erdgas und Kohle. Doch die Grenzen der vorhandenen Reserven zeichnen sich bereits heute ab. Daß dabei das Erdöl den größten Sorgenfaktor bildet, scheint seit der Ölkrise vor zwei Jahren über einen Kreis von Experten hinaus nun allmählich auch die Öffentlichkeit zu begreifen. Kein Wunder also, daß die Suche nach neuen Energiequellen weltweit zu einem der wichtigsten Anliegen geworden ist.

Bisher wurden deshalb in der Bundesrepublik fast 15 Milliarden Mark Steuergelder in die Kernenergieforschung gepumpt. Ein minimaler Teil dessen freilich, was in den nächsten Jahrzehnten an Ausgaben bevorsteht. Derzeit arbeiten im Bundesgebiet vier Prototypreaktoren. Zwei in Karlsruhe, einer in Kahl am Main und einer in Jülich. Darüber hinaus gibt es sechs Kraftwerke, die in das deutsche Verbundnetz Strom einspeisen, also bereits auf ökonomischer Basis funktionieren: Gund-remmingen, Lingen, Würgassen, Obrigheim, Stade und Biblis. Dreizehn Kernkraftwerke befinden sich zur Zeit im Bau. Weitere dreizehn Reaktoren sind geplant. Wenn sich aber die Vorstellungen der Bundesregierung von der Stromerzeugung bis 1985 erfüllen sollen, müssen bis dahin noch einmal etwa dreizehn weitere Atommeiler mit einer Kapazität von je 1300 Megawatt entstehen. Der Bundesrat billigte denn auchv mittlerweile einstimmig die erste Fortschreibung des Energieprogramms über einen beschleunigten Ausbau des Kernkraftnetzes in den kommenden neun Jahren.

Die Erstlingsaufgabe der Kernenergie, deren wirtschaftliche Nutzung nun angebrochen ist, liegt in der Elektrizitätsversorgung. Bis 1985 soll der stromerzeugende Teil der Atomkraft von 5,2 Prozent im vergangenen Jahr auf 45 bis 50 Prozent emporklettern. Der Raumbedarf für alle Atomreaktoren, die es bis 1985 geben soll, wird, entsprechend den technischen Entwicklungen, winzig sein: Alle geplanten Kernkraftwerke des Jahres 1985 zusammengenommen werden sich auf einer Fläche unterbringen lassen, die dem Frankfurter Flughafen entspricht.

Doch vielerorts in der Bundesrepublik, wo ein Atommeiler aus dem Boden sprießen soll, regt sich der Widerstand der Volksseele. Am heftigsten in der badischen Gemeinde Wyhl am Kaiserstuhl, in der Bürgerinitiativen seit längerem gegen ein geplantes 1300-Megawatt-Großkernkraftwerk Sturm laufen, dessen Betrieb für die Stromversorgung der rebellierenden Einwohner gedacht war. Die Bauern, vor allem die Winzer, wittern Gefahr für Leib, Leben und Weinbau durch radioaktive Strahlenbelastung.

Zwischenbilanz des Volksaufstandes am Kaiserstuhl: Der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger, Landesvater der Bürger von Wyhl, mußte zunächst klein beigeben. Der Bauanfang wurde erst vertagt, dann sprach ein Verwaltungsgerichtsurteil die

grundsätzliche Genehmigung des

Errichtungsbeginnes aus; dennoch versteifen sich die insgesamt 31 ba-disch-elsässischen Bürgerinitiativen, die das Baugelände seit Februar des vergangenen Jahres fast neun Monate lang besetzt hielten, auf umfangreiche biologische Untersuchungen. Vor nicht allzu langer Zeit rauften sich die baden-württembergische Landesregierung, der Bauträger Kernkraftwerk-Süd-GmbH und die Bürgerinitiativen zu der Maßgabe weiterer Wissenschaftsgutachten zusammen. Wenn jedoch die erkämpften Meßwerte erst knapp gegen Jahresausklang vorliegen und dann auch noch eine bedächtige Auswertung nach sich ziehen, ist im anstehenden Hauptsachverfahren beim Verwaltungsgericht Freiburg kaum vor Ende 1978 mit einem endgültigen Urteil darüber zu rechnen, ob im Wyhler Wald ein Atommeiler arbeiten darf.

Während der 14stündigen harten Sachdebatte der Interessensgruppen polemisierten jugendliche Kommunisten vor dem Verhandlungsgebäude in Offenburg und verteilten ihr Kampfblatt „Rote Fahne“. Al-

lerdings engagieren sich gegen das Wyhler Kernkraftwerk auch der Ortspfarrer und der CDU-Fraktionsführer im Stuttgarter Landtag, Lothar Späth, der damit seinen eigenen Parteifreunden eine harte Nuß zu knacken gab.

Nicht minder heißblütig ging die Landbevölkerung 500 Kilometer weiter nördlich gegen ein Kernkraftwerk in Kalkar, nahe der holländischen Grenze, vor. Durch schier endlose Genehmigungsverfahren erreichte man im vorigen Jahr, daß dieses deutsch-belgisch-niederländische Gemeinschaftsprojekt für mehrere Monate auf die lange Bank geschoben wurde.

Rund 200 Kilometer nördlich von Wyhl, in der Gemeinde Biblis, wo seit Mitte April des vergangenen Jahres das bisher größte laufende Kernkraftwerk der Erde steht, gibt es zwar auch eine Antiatomkraft-Bürgerinitiative; doch sie zählt allenfalls zwischen 60 und 70 Mitglieder und diese wiederum wenden

sich weniger gegen den Reaktor selbst, als gegen dessen vorgesehenen Erweiterungsbau. Diese eher1 schmalbrüstige Bürgerinitiative hat geringe Erfolgschancen. Die Sicherheitsvorkehrungen gelten international als vorbildlich; die offizielle Einweihung des Reaktors wurde von den Einwohnern überwiegend als Möglichkeit für neue Arbeitsplätze mit einem Volksfest geradezu euphorisch begrüßt und die neue Anlage soll laut Absichtserklärung der Bauherren sogar zu einem Standardtyp für Kernkraftwerke werden.

Ein besonderes Sorgenkind unter den Atommeilern bildet Würgassen in Südniedersachsen. Die angeblich hohe Störanfälligkeit des hermetisch abgeriegelten Kernkraftwerkes hat in den benachbarten Gemeinden bereits wiederholt Furcht und Empörung ausgelöst. Die technischen Pannen traten bisher freilich nur im „konventionellen“ Bereich auf. Ein echtes Sicherheitsrisiko bestand nach Beteuerung der Verantwortlichen zu keiner Zeit.

Ein Betriebsunglück von gleichfalls herkömmlicher Art war jenes, das sich am 19. November des Vorjahres im Kernkraftwerk im schwäbischen Gundremmingen ereignete. Zwei Mechaniker sollten bei abgeschaltetem Reaktor kleinere Reparaturen vornehmen. Beim öffnen eines Ventils entwich explosionsartig heißer Dampf. Die beiden Männer starben an Verbrennungen. Der Unfall, der sich in jedem mit hohen Temperaturen arbeitenden Werk hätte ereignen können, das mit Atomkraft auch nicht das geringste zu tun hat, gab den Reaktorgegnern neuen Auftrieb. Sie sprachen von der „ersten Atomkatastrophe in Deutschland“.

Wenn sich die Aufklärungsarbeit des Bundes und der Länder nicht grundlegend ändert, scheinen größere Demonstrationswellen noch bevorzustehen. Zwar halten Wirtschaftsminister Friderichs und Forschungsminister Matthöfer eine breitgestreute Informationskam-

pagne für unerläßlich; Transparenz ist jedoch nicht bloß für Ökonomie und Technik, sondern mindestens ebenso für Sicherheit unumgänglich. Denn Furcht oder gar Panik in der Bevölkerung, auch wenn es keine rationalen Gründe dafür geben sollte, könnten bei Eskalationen des Unmutes bis hin zu ernsthaften Ausschreitungen jählings die Ressort-

zuständigkeiten verändern. Scharfe Polizeiaktionen gegen Massen aufbegehrender Bürger müßten die Menetekel einer bundesweiten Revolutionsstimmung mit unabsehbaren politischen Konsequenzen heraufbeschwören, an denen ausschließlich Linksradikale ihr Süppchen kochen würden.

Daß in der Frage der Atomkraft, deren Entwicklung in der Bundesrepublik auf eine zwanzigjährige Geschichte zurückblicken kann, die Würfel längst gefallen sind, Ist nach der Kernenergiedebatte des Deutschen Bundestages ebenso deutlich geworden wie die Erkenntnis, daß der Ausbau der Atomwirtschaft gegen den Widerstand der Öffentlichkeit nicht durchzusetzen wäre.

Alternativen zur Stromerzeugung auf Kernenergiebasis wird es nach Überzeugung sämtlicher Forschungsteams, wie auch der deutschen Elektrizitätswerke, auf absehbare Zeit weder technisch noch ökonomisch geben.

Mit Public-Relations-Arbeit für „vertrauensbildende Maßnahmen“ ist es indes längst nicht getan. Das Thema Atomreaktoren hat in manchen, auch ernstzunehmenden Kreisen, zu einem emotionalen Kollaps geführt, der rationale Schritte erfordert. Das Parlament kann sich nicht darauf beschränken, mit der Propagierung beruhigend klingender Wahrscheinlichkeitsrechnungen der Bevölkerung Sedativa zu verabreichen. Es muß sich gemeinsam mit

der Wissenschaft mehr noch als bisher darauf konzentrieren, auf gewisse, erst in Ansätzen gelöste Fragen Antworten zu finden, die gegenüber der ganzen Weltbevölkerung vertretbar sind. Fragen nach der Unschädlichmachung von Atommüll, der Wiederaufbereitung des spaltbaren Materials, der Sicherung vor Terror- und Sabotageakten, vor denkbaren Flugzeugabstürzen über Reaktoren, Erdbeben oder anderen Elementarereignissen und nicht zuletzt vor möglichen Kriegseinwirkungen. Nicht endgültig geklärt ist auch der politische Fragenkomplex hinsichtlich des Exports nuklearer Anlagen samt Know-how ins Ausland, wie es sich am Beispiel Brasilien erweist.

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