Zu unseren Füßen dehnt sich Triest im Halbrund zwischen Bergen und Meer. Die widersinnige Grenze, womit die Stadt, die kurze Zeit nach 1945 ein Freistaat war, umschnürt wird, ist freüich nicht zu sehen. Deutlich auszumachen aber ist der alte und der neue Hafen und weiter im Osten, dort, wo Triest schon wieder zu Ende ist, der neue Ölhafen, ein Gewirr von Rohrleitungen, Brücken, Raffinerieaniagen, in einigem Abstand davon eine Anzahl Großtankschiffe. Weiter nach Südosten zu verliert sich die jugosla-wisch-istrianische Küste, dort dampft und qualmt das ehemalige Capo d'Istria, jetzt Köper, der slowenische Hafen und unmittelbar ein Konkurrent Triests. Im Westen flimmern die flachen Sandstrände Italiens, über welche sich im Norden die Krananlagen der Werft von Monfal-cone erheben. Im Süden scheinen Himmel und Meer ineinander überzugehen. Was da vor unseren Augen liegt, war einst das „Fenster der Monarchie“ zum Mittel- und damit auch zum Weltmeer.
Heute, so kann man es öfter hören, sei Triest ,ytot“. Überflügelt vom jugoslawischen Haupt- und Konkurrenzhafen Rijeka, dem ehemals italienischen und vorher österreichischungarischen Fiume. An die Wand gespielt von den „eifersüchtigen Schwestern“ Venedig, Genua, Neapel. Abgeschnitten von seinem natürlichen Hinterland, wegen unverständiger italienischer Tarifpolitik auch so gut wie „vergessen“ von Österreich und Ungarn.
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Und in der Tat: der Fuisschflag des Lebens ist anderswo stärker, rascher und von manchen Beobachtungspunkten aus scheint der Hafen, auch wenn gerade nicht gestreikt wird, leer. Doch, wie heißt es so schön? „Totgesagte leben länger.“ Und Triest lebt, lebt wieder, auch wenn es noch kein leichtes und kein reiches Leben ist. Und es lebt nicht vom Ölhafen allein.
Beide, das wieder italienische
Triest und des kroatische Rijeka, gehörten einst zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Dafür, daß sich Triest 1848 und 1870 dem italienischen Risorgimento gegenüber eher kühl verhielt, verlieh ihm der Kaiser den Titel „Fideüssima“, die Allerge-treueste. Schon 1719 waren Triest und Fiume zu „Freihäfen“ erhoben worden. Und im gleichen Jahr wurde auch — wer weiß das heute noch? — zum zweitenmal die „Orientalische Hamdelskompaignde“ in Wien gegründet, nachdem sie schon 1667 (!) zum erstenmal begründet, dann aber wieder stillgelegt worden war.
1722 gelangte eines der Flaggschiffe dieser Reederei bis an den Ganges und legte in BanM Basar eine österreichische Faktorei an. Das Schiff führte den Namen „Stadt Wien“.
Ein Schiff namens „Wien“ war es auch, das uns jetzt nach Triest gelockt hatte. So wurde am Tag unseres Besuches das neue Flaggschiff einer jungen Wiener Reederei getauft, der „Donau-Levante-Reederei AG“, die ihren Sitz in der GoLd-schmiedgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk hat und die ein Teil der noch jungen und kleinen Handelsmarine der Republik ist. Privater Unternehmergeist, manche nennen es Abenteuerlust, aber wie oft in der Geschichte verband sich nicht beides zum Erfolg, hatte diese Reederei mit 2 Millionen Schilling Grüindungskapital ins Leben gerufen. Hervorgegangen war sie aus idealistischen Bestrebungen des „Donau-Levante-Vereines“ und da sie eine auch gesetzlich „reinrassige“ österreichische Gesellschaft ist, führt sie die Flagge rot-weiß-rot.
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Die Geschichte der österreichischen Handelsflagge ist nicht so reich und ruhmbedeckt wie die anderer, seefahrender Nationen und natürlich auch weniger ruhmreich als die der alten kaiserlichen Kriegsmarine. Mehr noch als dieser wurden der Kauffahrtei binnenländischer Unverstand und pedantische Bürokratie zum Hemmschuh. Eigentlich war es der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand, der 1906 die Signale für größere Anstrengungen gab. Wenn er auch zunächst die Kriegsmarine bevorzugte, so war ihm und alsbald auch einigen anderen klar, daß die Vorteile einer guten und großen Handelsflotte im Frieden, noch mehr aber in Krisenzeiten auf der Hand liegen.
1912 zählte die österreichisch-ungarische Handelsmarine bereits 32.266 Wimpel (heute „Plaggenzerti-fikate“ genannt) mit mehr als einer Million BRT. Der Seeaußenhandel war in den zurückliegenden zehn Jahren um mehr als 25 Prozent angewachsen und 93 Prozent (!) des österreichisch-ungarischen Seehandels nahmen den Weg über Triest! Längst waren Reedereien wie der
„österreichische Lloyd“, die „Un-garo-Groata“, die „Austro-America-na & Fratelli Cosulich“ und später die „Vereinigte österreichische Schiffahrts-AG“, um nur einige zu nennen, gut etablierte Linienverkehrsunternehmen geworden. 1913 wurde Triest von einer Gesamttonnage von 5,480.074 BRT angelaufen. Dann kam der erste große Weltkrieg, die Niederlage der Monarchie und Mussolini, der in sein Kriegstagebuch den irredentischen Schwur „Trento und Trieste gebe ich Dir zurück“ notiert hatte, erlebte dessen Erfüllung. Die Triestiner erlebten allerdings nicht den erhofften weiteren Aufstieg, vielmehr gingen sie schweren Zeiten entgegen. Österreich und Ungarn jedoch mußten ihre Flaggen streichen, trotz mancher Anstrengung in der Zwischenkriegszeit sanken sie bis zur Bedeutungslosigkeit im Seeverkehr herab.
Das änderte sich auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht. Bemühungen etwa des Grazer Industriellen Peter von Reininghaus, zwischen Triest und Österreich einen „Mcdus vivendi sui generis“ zu schaffen, blieben unverstanden und — wie anders wäre es in Österreich möglich? — natürlich auch unbedanikt. Mehr und mehr schwand die Bedeutung Triests für Österreich dahin; der neue, große Umschlagplatz hieß jetzt Rijeka, schon weil die jugoslawischen Staatsbahnen die italienischen durch eine großzügigere Tarifpolitik niederkon-kurrenziert hatten. Nur einige Idealisten und risikofreudige Unternehmer mühten sich noch abj zum Teil mit eher niederschmetternden Ergebnissen.
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Diese Flaute herrscht nicht nur wagen der nun noch ausgeprägteren Binnenmentalität; sie hat auch eine Reihe anderer Gründe:
• Die Zweite Republik hatte andere Sorgen und kam darüber gar nicht auf den Gedanken, daß Seefahrt auch etwas anderes als „Luxus oder Abenteuer“ sein könnte;
• So gab und gibt es auch keine fiskalischen Fördorungsmaßnahmen, wie sie andere Binnenländer, beispielsweise auch die Schweiz, längst kennen. Denn diese Länder, vor allem die neutralen, wollen ihre lebenswichtigen Handels- und Versorgungslinien in Krisenzeiten nicht der Großzügigkeit anderer Staaten oder gar dem Zufall überlassen;
• Es gibt zwar rund tausend österreichische Seeleute, etwa 13 davon sind Kapitäne, die aber heuerten bei ausländischen Reedereien an. Nachwuchs in Österreich gibt es so gut wie keinen, da es hier auch keine entsprechenden AusbiWiungs-stätten gibt, wie sie zum Beispiel die Ungarn haben;
• Seefahrt ist kapital- und kreditträchtig, doch die österreichischen Banken besitzen keinerlei Erfahrung und empfinden eine dementsprechend große Scheu vor so unbekanntem Engagement;
• Erst in jüngster Zeit ist Österreich bestrebt, allen einschlägigen internationalen Konventionen beizutreten und die naturgemäß bruchstückhafte eigene Seefahrtsgesetzigebung gehörig auszustaffieren. Da die Bürokratie aber, von rühmenswerten Ausnahmen einmal abgesehen, ebensowenig „Seefahrtspraxis“ besitzt wie auch der Gesetzgeber, diroht mitunter die Gefahr allzu enger Hemmschuhe, in die sich die aufstrebenden, immerhin aber noch kleinen österreichischen Reedereien plötzlich eingeschnürt finden könnten.
Unter so ungünstigen Voraussetzungen ist unternehmerischer Mut bewundernswert. Er brachte immerhin verschiedene rein österreichische Reedereien zustande, die zusammen
über eine Tonnage von 36.000 BRT. verfügen. Zum Vergleich: die Schweizer Handelsflotte besitzt andauernd eine Tonnage von zirka 45.000 BRT, die in Krisenfällen rasch auf 90.000 BRT gebracht wird. Damit versorgte sie sich auch im zweiten Weltkrieg reichlich und sicher.
6200 BRT, also rund ein Sechstel der österreichischen Tonnage gehören der „Donau-Levante“, die mit ihren Schiffen „Elena“, „ChrLsttana“, „Vittoria“, „Maria“ und dem neuen für Cargo, Schüttgut und Container geeigneten Frachter „Wien“ einen regelmäßigen Liniendäenst nach der Levante fährt, Schwarzmeerhäfen, türkische, griechische und nordafrikanische anläuft und 1971 in Triest bereits 100.000 Tonnen Frachtgut umgeschlagen hat, das sie auf über 200.000 Sm (1 Sm = 1,82 km) beförderte. Autos, Papier, Holz und chemische Produkte aus Österreich und Zitrusfrüchte, Agrarprodukte und ähnliche Güter nach Österreich sind die Hauptfracht.
Zweierlei ist daran bemerkenswert: daß die „Wien“ der erste moderne „Kombifrachter“ im östlichen Mittelmeer ist und daß die „Donau-Levante“ bereits den ersten Platz unter den Levante-Reedereien einnimmt! Zusammen mit dem Triesti-ner Spediteur Ernanno Jerich konnte sie ein Lade- und Transportsystem entwickeln, das den Tranisportablatif vom Lieferwerk bis zum Lief erziel vollkommen mechanisiert. Auch das ist auf diesem Teil des Mittelmeeres eine „österreichische Premiere“.
Da bildete sich unter rot-weißroter Plagge eine Zusammenarbeit zwischen Wien und Triest heraus, über die es sich lohnt, nachzusinnen. Wirtschaftlich und auch hinsichtlich „ziviler Landesverteidigung“ liegen die vorteilhaften Möglichkeiten auf der Hand. In östereichischem Eigentum stehende Schiffe, die die österreichische Flagge führen dürfen, stehen nach Haager und Genfer Konvention im Krisenfall außerhalb des sonst gestatteten Zugriffes auf „feindliches Eigentum“. Das allein wäre ein guter Grund, den Aufbau einer eigenen Handelsflotte nicht bloß der Initiative, dem Mut und, auch das muß man sagen, sehr oft auch dem Patriotismus einiger beherzter Reeder zu überlassen.
Da kommen auch staatliche Interessen ins Spiel. Denn die 250.000 BRT „Chartertonnage“, die auch unter der Flagge Österreichs die Weltmeere befahren, haben einen solchen konventionellen Schutz nicht für sich.
Auf der Hand liegt auch, daß diese risikofreudigen Redereien recht besorgt sind, daß die nun allmählich in Schwung kommende Gesetzgebungs-maschiinerie der Hochseeschiffahrt durch praxisfenne Bestimmungen nicht sozusagen noch in der Geburtsstunde die Luft — und die Lust — zum Leben nimmt!
Und schließlich geht es um eine Belebung des Kreditmarktes für die Hochseeschiffahrt. Moderne Schiffe, wie etwa die „Wien“, kosten zirka 6000 Schilling pro Ladetonne, das sind 15 bis 20 Millionen für kleinere, 100 und mehr Millionen für ganz große Frachter; Beträge, die derzeit auf dem Kapitalmarkt nicht zu holen sind, weshalb das ganze rtochseeun-ternehmen noch in sehr engen Kinderschuhen steckt.
Auch ein anderer Zeitgeist ist den Seefahrern in aller Welt nicht günstig: die langen Fahrtenzeiten, die während dieser zu leistenden, oft unter wahrhaft stürmischen Umständen noch erschwerten Arbeiten und die Möglichkeit, heutzutage .Abenteuerlust“ und „Fernweh“, jetzt schon in Farbe, via Bildschirm oder durch Sozialtourismus zu befriedigen, lassen immer weniger Menschen um eine Heuer anstehen. Sie müssen durch kostspielige Geräte und Mechanismen ersetzt wenden. Darum gleichen moderne Frachter heute sehr oft menschenleeren Geisterschiffen.
Wem aber so Wirtschaftliches weniger sagt, der kann über Seefahrt und diesbezügliche Gemeinsamkeiten etwa auf den Terrassen des ehemals habsburgischen Lustschlosses Mira-mare bei Triest oder auf dem Söller des Thum und Taxis'schen Schlosses auf dem nahegelegenen Felsen von Duino, wo Rilke einst seine Elegien niederschrieb, nachsinnen. Er befindet sich dann wieder an jenem „Fenster zur Welt“, durch das einst Österreich auf das Meer blickte und durch welches der Wind der weiten Welt bis weit ins Hinterland gelangte. Die Horizonte weiten sich tos scheinbar Unendliche, und aus dem Unendlichen dringt die Ferne auf uns ein. Das ist es, was Seefahrt treibende Nationen anderen oft so überlegen macht!
Das adriatische Meer, einst auch ein österreichisches, ist uns Wiege und Schicksal zugleich. Wie gut, zu wissen, daß über ihm auch Österreichs,Flagge wieder weht.