Bieder und ungestüm

In den Wiener Öffis setzen fast alle Fahrgäste ihre Masken brav auf. Aber eben nur fast. So manches schwarzes Schaf sitzt oben ohne da. Das höchste Aggressionspotenzial geht von Passagieren aus, die zunächst einen harmlosen Eindruck machen, erklärte jüngst ein Kontrolleur im TV. So seien es nicht die muskulösen, Ganzkörper-tätowierten Zwei-Meter-Burschen, die einen Aufstand machten, wenn sie gemaßregelt würden, es seien die biederen Typen.

Ich vermute, er meinte diese blassen Gesellen, gekleidet in Karohemd und Polyestersandalen, mit einer Frisur, die schon bessere Zeiten gesehen hat.

Ich wohne unweit einer Einkaufsmeile. Dort wimmelt es von Keilern, die mir etwas andrehen wollen. Ein Zwiegespräch mit Jesus etwa. Gegen Geld versteht sich. Oder eine aktive Rolle im Verein der Frutarier – das sind die, die nur Obst verzehren, das von selbst vom Baum fällt. Auch gerate ich regelmäßig in die Fänge von Frauen, die sich gegen das Stillen in der Öffentlichkeit - oder dafür - aussprechen.

Ja, ich reagiere zuweilen unwirsch, unhöflich und ungestüm. Entweder ob der Penetranz der Werber oder weil ich meine Ruhe haben will. Würde man die Keiler befragen, von welchen Passanten das höchste Aggressionspotenzial ausgeht –sie beschrieben Frauen wie mich. Die mit Kampfhund, Springerstiefel und Gesichtspiercing verhalten sich im Zweifel zahm wie ein Lamm.

Ich dagegen bin das schwarze Schaf. Das Pendant des Masken-Ignoranten - von der biederen Sorte. Ein ähnlich emotionales Pulverfass.

Das Zwiegespräch mit Jesus. Ist das die Lösung für uns Aufgebrachte? Ich werde beim einschlägigen Stand eine Rabatt-Aktion anregen. Die Biedermeier und ich müssten nur erstmal Blut lecken dürfen.

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