Der innere Unfrieden
Brigitte Quint über die Begegnung mit einem Zeitgenossen, die sie über das eigene Erleuchtetsein nachdenken lässt.
Brigitte Quint über die Begegnung mit einem Zeitgenossen, die sie über das eigene Erleuchtetsein nachdenken lässt.
Therme Oberlaa. Mein Sohn und ich im Außenbecken. Neben uns ein Paar. Der Mann redet auf die Frau ein. Es geht um ihre Oberschenkel. Der Mann erklärt, angesichts ihres Alters hülfe nur eine Fettabsaugung. Mit Abnehmen allein, so der Mann, sei es nicht mehr getan. Die Frau – Mitte 50, blond, hübsches Gesicht – nickt zustimmend. Ob sie dicke Oberschenkel hat, kann ich nicht erkennen. Die sind ja im Wasser. Auf mich wirkt sie normalgewichtig.
Der Bierbauch des Mannes ist dagegen unübersehbar. Seine Nase leuchtet rot. Sonnenbrand. Sein Haar ist licht. Ich schätze ihn auf Anfang 70. Jetzt nimmt er uns ins Visier. Ein Wasserspritzer hat ihn getroffen. Mein Kind. Es fuchtelt mit den Armen herum, übt schwimmen. Coronabedingt fehlt die Praxis. Ich entschuldige mich. Der Mann dreht seinen Kopf in Richtung Kinderbereich. Unmissverständlich gibt er mir zu verstehen, dass wir uns vertschüssen sollen.
Für solche Fälle wurde die Esoterik erfunden. Typen wie dieser Mann sind Schuld, dass Bücher wie „Der Pfad des friedvollen Kriegers“ oder „Das weise Herz“ oder „Hawaianische Rituale für den inneren Frieden“ Bestseller sind. Das hawaianische Vergebungsritual besagt etwa, dass in der Welt alles eins ist, auch wenn wir uns getrennt fühlen. Probleme im Außen könne man nur bewältigen, wenn man die innere Resonanz dazu heilt.
Dass ich bei diesem Glatzkopf das kalte Grausen kriege, liegt demnach an mir. Wäre ich mit mir im Reinen, wäre mir sein Verhalten schnurzpiepe. Oder besser noch, ich würde ihm mit Liebe begegnen. Das wiederum machte mich weniger reizbar, rastlos, sensibel. Ich wäre ausgeglichen.
Meinem Kind zuliebe bin ich nicht ausgerastet. Ich habe diesen Unsympathen einfach ignoriert. Aber wehe, der läuft mir nochmal über den Weg. Dann werde ich ihm zeigen, wie unerleuchtet ich wirklich bin.
Lesen Sie auch die Quintessenz "Von der Demütigung, Mittelmaß zu sein" oder "Grüß Gott, Sie Flegel!".
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