Kind zum Betteln missbraucht
Brigitte Quint über eine Begegnung, die sie erschüttert.
Brigitte Quint über eine Begegnung, die sie erschüttert.
Lieber Elias,
ich stelle mir vor, du hießest so. Ich habe dich nur zweimal gesehen. Aber diese zwei Mal hatten es in sich. Um mich wütend zu machen. Und traurig. Ich habe gehadert. Mit der Welt, der Menschheit und vor allemmit mir.
Wie alt bist du? Ich schätze drei Jahre. Du solltest auf dem Spielplatz herumtoben. Oder im Schwimmbad. Jemand sollte dir eine große Kugel Eis kaufen. Ich wünschte, ich hätte es getan.
Unsere erste Begegnung war auf der Landstraßer Hauptstraße. Deine Eltern sind dort mit dir auf und ab gegangen. Dein Vater hat die Passanten angesprochen. Er wollte Geld, zeigte auf dich. Das Wort „Hunger“ fiel. Du hast auf den Boden geschaut. Dein Vater verhielt sich aggressiv, deine Mutter wirkte apathisch. Und ich? Ich ging weiter. Mit einem Kloß im Magen. Weil du zum Betteln missbraucht wirst und ich meine, machtlos dagegen zu sein.
Nun bin ich dir wieder begegnet. Erneut auf der Landstraßer Hauptstraße. Es war brütend heiß. Du hast geweint, geschrien, schienst verzweifelt. Und du warst viel zu warm angezogen. Dein Vater hat an deinem Arm gezerrt. Du wolltest auf keinen Fall weitergehen. Doch es gab kein Pardon.
Ich habe mehrere Augenblicke gezögert, Blickkontakt zu anderen Fußgängern gesucht. Niemand reagierte. Dann drehte ich mich um, lief dir nach. Ohne zu wissen, was ich tue, wenn ich dich finde. Deine Eltern zur Rede stellen? Die Polizei rufen? Mein Portemonnaie öffnen?
Es ist hinfällig. Du warst weg. Ich blickte in die Seitengassen, fragte einen Augustin-Verkäufer. Nichts. Elias. Ich fürchte mich vor unserer nächsten Begegnung. Wie soll ich mich dann verhalten? Muss ich hinnehmen, was ich sehe? Und wenn nein, wie kann ich aufbegehren– und bei wem?
Aber nicht ich bin das Opfer. Du bist es. Du solltest toben, spielen, ein Kind sein dürfen. Und in einer Welt leben, in der das für einen Dreijährigen selbstverständlich ist.
Bis bald, Brigitte
Lesen Sie auch die Quint-Essenz "Das Problemkind" oder "Allora andiamo!".
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